Später am Tag fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Wolf und Gabriele anzurufen. Sofort fiel dies Versäumnis und die Tatsache, daß er das unbedingt heute abend nachholen mußte, über seine Stimmung her, verdüsterte Himmel und Horizont und ließ den Goldrand am Schneefeld verblassen. Er versuchte, das Bedrückende beiseite zu schieben, es durch Gehen aufzulösen, aber als er kurz vor Dunkelwerden auf das Dorf zuging, in dem er übernachten wollte, wußte er, daß es Angst war. Es dauerte lange, bis der Hörer abgenommen wurde, er wollte schon, fast erleichtert, auflegen. Dann Wolfs tiefe, angenehme Stimme. Richard atmete auf, ein Aufschub immerhin, vielleicht konnte Gabriele nicht ans Telefon gehen. Er wußte nicht, wie Wolf das alles aushielt.
Schön, daß du anrufst, Richard.
Frohe Weihnachten, Wolf, sagte er, dir und Gabriele. Und dann, fast gegen seinen Willen: Wie geht es ihr?
Nun, was erwartest du. Es ist eben Weihnachten. Karl Hoffmann, du weißt, der Arzt, der sie behandelt, mich akzeptiert sie ja nicht mehr, war Heiligabend hier und hat ihr Antidepressivum verdoppelt, aber trotzdem - sie hat fast nur geweint. Wolfs Stimme brach, er schwieg, Richards Magen zog sich zusammen -
Nun. Wolfs Stimme klang jetzt stumpf. Es ist vielleicht doch gut, daß du nicht da warst. Obwohl -
Das blieb in der Schwebe. Und auch der unausgesprochene Vorwurf hing da: hatte seine Absage für Weihnachten zu dem Zusammenbruch beigetragen? So etwas konnte man dann eben auch nicht fragen, weil es nur Verwirrung stiften, weil es nur sein schlechtes Gewissen offenbaren würde. Und weil es nichts nützen und nichts ändern würde.
Ich komme nach Neujahr, sagte er.
Ja. Ja, das ist gut. Bis dahin ist Gaby sicher auch wieder stabil.
Es ist nicht gut, dachte Richard, nachdem er aufgelegt hatte und in den Gastraum zurückkehrte, es ist nicht gut, wenn die Toten Macht über uns haben.
Draußen ein dramatischer Sylvesterhimmel mit Sturmwolken und schräg fegenden Schneestreifen.
Draußen tobte nicht nur der Sturm, sondern auch das Feuerwerk mit seinem Getöse und Geknalle. Der Hund, der zum Gasthof gehörte, war jaulend unter die Bank gefahren und lag nun dort seit Stunden, ab und zu leise wimmernd. Richard und Franz hatten sich für Forellen und fränkischen Sylvaner entschieden, einen Wein, den sie fast immer tranken, wenn sie zusammen waren.
Und sie waren schon lange zusammen, wenn auch in verschiedenen Gegenden und unterschiedlichen Lebensumständen. Zusammengekommen waren sie an der Freien Universität und sie waren beide, der eine aus Bayern, der andere aus dem Rheinland, in Berlin, um der drohenden Einziehung zur Bundeswehr zu entgehen. Das war ihre erste Gemeinsamkeit gewesen: sich niemals und von niemandem instrumentalisieren zu lassen. Natürlich wollten sie die Welt verändern und natürlich ödete sie die Germanistik an, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, kraftlose Interpretationen, jetzt, da sie beide fast fünfzig waren, dachten sie daran mit einem leisen Lachen und einem kleinen nostalgischen Gefühl, denn das war die wirkliche Gemeinsamkeit, daß sie sich nicht für das Studium, sondern für die Bilder interessierten, stundenlang liefen sie durch die Museen und besuchten die Galerien, lernten mehr über die Bilder als über die Literatur, und nach einiger Zeit zogen sie die Konsequenz, Richard wechselte zur Geschichtswissenschaft, ohne die geringste Ahnung zu haben, was er eines Tages damit anfangen würde, einfach weil es ihn interessierte, Franz machte eine Galerie auf, die ziemlich viel Geld verschlang und ziemlich schnell zugrunde ging und wartete mit unterschiedlichen Anstellungen in den unterschiedlichsten Galerien, aber immer am Kudamm, auf den Moment, in dem der Staat es leid war, seinen langen Arm nach ihm auszustrecken. Und dann war da noch Miriam.
Die Schüsse nachts über den Teltowkanal hinüber, die Schüsse, die in die Träume eindrangen und sie im Schlaf beunruhigten, das Gefühl des Eingesperrtseins, das sich manchmal in gegenseitigen Aggressionen Luft machte, die Trostlosigkeit dieser Stadt vor allem im Winter, man kam auf die absurdesten Ideen, Richard ging eine Zeitlang mit einer Gruppe der Heilsarmee auf die Straße und sang ihre Lieder mit, nur um zu wissen, wie so etwas sich auswirkte auf ihn, eine Art Selbstversuch -
Er, auch er wollte die Welt zu einem bewohnbareren Ort machen und als er verstanden hatte, daß die Religion am Anfang aller menschlichen Bemühungen um diese Bewohnbarkeit stand, schien sie ihm zu diesem Zweck genau so brauchbar zu sein wie eine politische Partei, eine Studentenbewegung oder eine Revolution. Franz, der immer außerhalb von allem stand, amüsierte sich: Gib dir keine Mühe. Du verfällst der Idee der Institution. Das war sein Lieblingsgedanke: daß Institutionen Gefängnisse sind, Mauern und Gitter, jeder, sagte er, der einer Institution beitritt, geht freiwillig in den Knast. Und die Welt wird dadurch nicht verändert, aber du veränderst dich, und nicht zu deinem Vorteil. Du wirst zu einem Funktionär und siehst du, was das Wort enthält, funktionieren. Du bestehst nur noch aus Funktionen und dem Funktionieren deiner Organisation. Darüber ging der Winter in Berlin dahin und im Frühling traf Richard Miriam und damit änderte sich alles.
Miriam war der erste feste Punkt in seinem auseinanderdriftenden Leben. Und die Bilder. Die Höhlen. Die Bilder in den Höhlen. Und er verstand, was Leben ist, Lebendigkeit, eine Bewegung, die sich über einen Zeitraum von zehn-, zwanzig-, dreißigtausend Jahren mitteilen kann, galoppierende Pferde, Urpferde mit vorgestreckten Hälsen, mit gedrungenen Köpfen und hochstehenden Mähnen; die traurigen, so ungemein menschlichen Gesichter der Wisente mit ihren Bärten, Steinböcke im Sprung, Hirsche und Hirschkühe, Auerochsen, Löwen, eine ungeheure Realität, lebendig und beweglich, wenn man länger hinschaut, könnte man glauben, sie zögen an einem vorbei.
Und diese Anmut -
Aber was bedeutete es, daß sie fast ausschließlich Tiere gemalt haben. Nur Tiere - keine Pflanzen, keine Früchte, keine Bäume. Und wenn, ganz selten, ein menschlicher Körper auftraucht, dann in einer Verwandlung, ein Löwenkopf auf einem grob geschnitzten Frauenkörper; ein Tänzer, oder ist es ein Flötenspieler, ein Mischwesen mit einem Gehörn, einem Schwanz, Tiermenschen -
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