Solange es Menschen gab, waren sie gegangen, von Anfang an, das einzige Lebewesen, sagte er, das nicht für die Dauer ein Revier absteckt, sondern ins Offene geht, war der Mensch. Das war etwas, was ihm gefiel: ins Offene zu gehen, ins Unbekannte, für Professor Richard Thorwald war dies das Typische für den Menschen, in seiner Bedeutung kam es der Zähmung des Feuers oder der Erfindung von Werkzeugen gleich. Bis Hirtennomaden auf den Einfall kamen, daß man auf einem mehr oder weniger gezähmten Pferd oder Esel oder Rentier schneller voran kommt, sind sie gegangen, haben sie wahrscheinlich den Rausch gespürt, der entsteht, wenn der Körper schmerzstillende Stoffe produziert, dieser geheimnisvolle chemische Vorgang, diese Alchimie des Körpers, die Eigenproduktion von opiaten Stoffen, auch hallizugenen, beim Gehen entstehen die merkwürdigsten Gefühlszustände, manchmal ein leichtes Schwindelgefühl wie nach Champagner, ein Glücksgefühl, euphorisch -
Das Offene also, die Fremdheit, mit der man einer Landschaft begegnet und die einen in sich hineinzieht, ist, genau so, wie man einer neuen Musik oder einem fremden Menschen begegnet, die Fremdheit in uns selbst, mit der wir, in ganz seltenen Augenblicken, uns selbst begegnen, gegenüberstehen, uns verwirrt fragen, warum wir ausgerechnet dort stehen, wieso wir das sind, oder ein Anderer vielleicht, diese Fremdheit, die er heute nacht wieder einmal erfahren hatte, die aber umgeschlagen war in das Bedürfnis nach Nähe, einmal diese Nähe gespürt und schon will man nicht mehr allein sein. Das Alleinsein war ja ebenso unnatürlich, oder besser: dem Menschen fremd wie das Fahren. Am besten war das Gehen miteinander, nur daß er kaum noch jemanden kannte, der bereit war, mit ihm zu gehen, schon gar nicht über einen längeren Zeitraum, Franz, ja, und Miriam war gerne gegangen, sie war eine Nomadin, ein zigeunerhaftes Wesen gewesen, oder ein Wüstenmensch, vorbehaltlos war sie mit ihm gegangen, immer, ohne je zu klagen und trotz manchmal kaputter Füße, stoisch.
Sie fehlte ihm so sehr.
Irene, während sie ins Haus zurückging, fragte sich wie nebenbei, eher am Rande ihres Bewußtseins, ob sie wünsche, daß er zurück käme, daß er wiederkäme? - wie er da gestanden hat, eine unförmige Silhouette gegen den im Westen gerade noch hellen Streifen unter dem Sturmhimmel, während ich auf ihn zu ging, konnte ich nichts erkennen wegen Gegenlicht, dann sah ich, wie naß er war, wie dreckig die Schuhe, aber es waren die richtigen Schuhe, daran kann man es immer erkennen, daran und am Rucksack, sobald er sprach, waren die Hunde still, auch das ist ein Zeichen, sein Gesicht sah ich ja erst, als er in der Diele stand - und sie stand in der Diele, nachdem sie die Haustür geschlossen hatte, und empfand die Stille und die Einsamkeit deutlicher als sonst - wie er den Hut abnahm, vernünftige breite Krempe, er war gut ausgerüstet, sowas mag ich, aber da war auch die Müdigkeit um seine Augen und dieser Zug von permanenter Anspannung um den Mund, als er auf seinen dicken Socken ins Zimmer kam, machte er diese Fluchtbewegung, warum? - das hätte ich gerne gewußt, aber richtig gesprochen haben wir ja erst, als der Padre kam - ob der wohl was ahnt von meinem geheimen Leben, das Dorf klatscht natürlich, aber darauf gibt er nichts, das weiß ich, ob er wohl darüber nachdenkt oder spekuliert, oder schickt er mir einen Zimmer suchenden Mann naiv und unberührt von jedem Hintergedanken ins Haus, ich würd es ihm ja zutrauen oder eben solche Spekulationen über mein Liebesleben nicht zutrauen, er ist so ein Lieber, der Padre, ich vergesse selbst immer, wie kompliziert das alles in Wirklichkeit ist, in der Alltäglichkeit wird es noch komplizierter - und sie ging langsam ins Wohnzimmer und lehnte sich gegen den warmen Kachelofen - worüber soll man reden, er lehrt Geschichte an einer Universität, so viel habe ich mitbekommen, hat er eigentlich keine Frau? - wie das stürmt draußen, was für eine Zeit für eine Wanderung, wie kam er bloß dazu? aber er meinte, es mache ihm nichts aus, im Gegenteil, er liebe den Sturm, wie es gestürmt hat in der Nacht, ich liebe das auch, das war ja auch der Grund, warum ich, diese Übereinstimmungen von draußen und drinnen, es war eine Nacht, eine gute Nacht, so muß es sein, nein, er wird nicht wiederkommen, so muß es sein - und Irene stand auf und ging über den Flur und den Gang hinunter. Vor der weißen doppelflügligen Tür blieb sie einen Augenblick stehen und schloß die Augen, sie konzentrierte sich mit einem tiefen Atemzug, beschloß zu lächeln, betrat das Krankenzimmer und sagte: Ich bins, Mamma. Die Schwester kann heute nicht kommen; ich helfe dir, komm. Und mit geübtem Griff, den die Gemeindeschwester ihr beigebracht hatte, hob sie die kleine, zusammengesunkene Gestalt aus dem Bett und brachte sie ins nebengelegene Bad.
Der Mensch der Steinzeit, der Eiszeit, des Paläolithikums, er war in Gruppen gegangen, niemals allein, ein Mensch allein in jener Zeit wäre verloren gewesen. Richard war überzeugt davon, daß jene fernen Vorfahren zwar alle möglichen Krankheiten gehabt haben mochten, aber keine seelischen Störungen, keine Neurosen, keine Depressionen, keine Herz-Kreislauf-Schädigungen, keine Herzinfarkte. Er führte es aufs Gehen zurück. Vielleicht auch keinen Krebs. Das wußte man nicht so genau. Es war die Welt, in der er hätte leben mögen, wenn man ihm die Wahl gelassen hätte. Sie war nur noch in den Bildern lebendig, in den wenigen kunstvoll verzierten Gerätschaften und Waffen und in den exakt zugeschliffenen Werkzeugen aus Stein. Vor allem aber in den Bildern. Sie glichen in nichts dem, was er kannte, was wir kennen und wirken doch in einer schmerzhaften Weise vertraut, wir haben Namen für alle diese Tiere, die auf dunklen Felswänden, in tiefen Höhlen ihr geheimnisvolles Leben leben, seit zehntausend, seit zwanzigtausend und mehr Jahren. Lange hatte er über das Wesen der Bilder, über ihre ursprüngliche Bestimmung, ihre Bedeutung nachgedacht, sich Notizen gemacht, Material gesammelt, die Bilder angeschaut, immer wieder, sich etwas vorgestellt und doch gewußt, daß er dem Geheimnis niemals auf die Spur kommen würde. Inzwischen glaubte er, daß das auch nicht wichtig war, nicht wirklich wichtig, die Annäherungen mußten genügen. Mit diesem Verzicht, der ihm dann doch irgendwann leicht gefallen war, nahm er Abschied von dem Gedanken an eine große Veröffentlichung, oder von der Vorstellung, ein Buch zu schreiben über das Geheimnis, das sich in den Höhlen verbarg und das er, Richard Thorwald, gelüftet hätte. Mit einer kühnen, einleuchtenden These zu den Bildern, von der Ethnologie über die Kunstgeschichte bis zur Archäologie.
Es gab ja genügend Theorien, die Höhlen als Kathedralen der Eiszeit, Jagdzauber wie bei den Pygmäen noch heute oder, jedenfalls vor nicht allzulanger Zeit, Beschwörung und Bann.
Das alles mochte stimmen oder auch nicht.
Für ihn waren die eiszeitlichen Bilder Spiegel; man konnte auch sagen, Entsprechungen.
Entsprechungen von was?
Es war nicht leicht, das auszudrücken, denn dann mußte er das Wort Seele benutzen. Dachte er darüber nach, war alles einleuchtend. Schrieb er es nieder, wurde es merkwürdig. Jene Menschen, die diese Kunstwerke schufen, deren Stil und Objekte sich innerhalb von mehr als dreißigtausend Jahren nur wenig änderten, nur unmerklich variierten, aber innerhalb des großen Themas immer neue Zusammenstellungen schufen, sahen sich offenbar in allem wieder, in den lebendigen Tierherden, denen sie ihr Leben lang nachzogen, wie in den Bildern, die sie davon schufen. Sie selbst waren in den Bildern, die Bilder warfen ihnen das zurück, was sie waren, aus einer seltsamen unbestimmten Entfernung, mit imaginären Augen; so waren es nicht nur Bilder, sondern der andere, unsichtbare Teil der Menschen selbst, wie die Familie, die Gruppe, der Clan eine Familie, eine Gruppe, ein Clan war und gleichzeitig das Selbst des Einzelnen, das umfassende Selbst, dessen Verlust heute von so vielen beklagt wird, das wir aber nicht mehr leben könnten, eine Einheit von Entsprechungen. Wir können so nicht mehr leben, weil es eine Regression wäre. Die wir gar nicht wollen. Nicht wirklich.
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