Aber die Form war nur die eine Seite, die andere war das Chaos, das Wollüstige und Disparate, das man nach seiner Meinung an seiner breiten Nasenwurzel ablesen konnte, und das durch gewisse Signale ausgelöst werden konnte. Das Klacken hochhackiger roter Sandaletten auf dem Pflaster. Oder ein bestimmter Duft. Oder vielmehr, es waren nicht zwei Seiten, sondern die eine bedingte die andere, ohne das Chaotische in seinem Leben wäre ihm niemals etwas an einer Form gelegen gewesen. Es konnte auch die nur angedeutete Schlucht zwischen zwei Brüsten sein, oder ein breiter Mund oder eine einfache Handbewegung. Das mit der Form Unvereinbare hing immer mit einer Frau zusammen, mit einer bestimmten Art von Frau -
Er ging durch den trüben Winternachmittag, ein großer schlanker Mann Anfang Fünfzig, mit kurzgeschorenem Haar, das einmal blond gewesen war, seit einiger Zeit aber ins Eisgrau hinüberwechselte, ein Mann mit einem charmanten Zug um den Mund, ein Eindruck, der in den nach oben gebogenen Mundwinkeln entstand und beim Lächeln sofort das ganze glattrasierte Gesicht einbezog, was ihm immer schon die Sympathien aller, denen er begegnete, Männer wie Frauen, einbrachte, er ging an diesem trüben Winternachmittag durch den Hofgarten zur Adenauerallee, um in der Bibliothek die Bücher abzuholen, die er für die Ferien bestellt hatte, fand jedoch, als er die Bibliothek verließ, wie überflüssig sie waren angesichts der heftigen Unruhe, die ihn heute Nacht angefallen und seither nicht mehr losgelassen hatte. Zu Hause legte er sie ordentlich gestapelt auf seinen Schreibtisch und betrachtete sie grübelnd.
Er empfand sich als Dilettant. Ein Liebhaber schöner Bilder, einer geheimnisvollen und letztendlich, trotz unendlicher Bemühungen, uninterpretierbaren Bilderwelt, der er verfallen war, seit er sie zum erstenmal wahrgenommen hatte. Einer, der in anderen Zeiten zu Hause war, dem vergangene Zeiten immer auch eine Art Zuflucht waren oder besser, das, was von ihnen, von den verschiedenen Zeiten, übriggeblieben und auf uns gekommen ist. Bilder. Tempel und Säulen. Statuen und Statuetten. Pyramiden und Sphingen. Reliefs und Tonkrüge. Aber vor allem die Bilder, die einfach da sind, die nichts wollen, die keine Botschaft haben, kein Anliegen. Nicht für uns. Für uns sind sie einfach nur da. Was sie einmal bedeuteten, wissen wir nicht -
- das Rot und die schwarzen Striche, die kräftigen Umrandungen, die zarten Tupfer, gefleckte Leoparden, die gebogenen Hörner, mondgleich, die Tiergesichter mit ihrem sanften Ausdruck, das Sonnengelb und Orange, die Brauntöne, braun und erdig, die übereinanderlagernden Schichten, die geheimnisvollen Zeichen, eine unerreichbare Welt, eine Welt, die vor zehntausend Jahren unwiderruflich zu Ende gegangen ist -
Eine Obsession, die von ihm Besitz ergriffen hatte, als er jung gewesen war, das hatte ihn sein Leben lang interessiert, etwas, was niemand verstand - seine Eltern nicht, die ohnehin sich nicht vorstellen konnten, was eine Obsession war, aber auch Kollegen und Freunde nicht. Außer Miriam natürlich. Und Franz. Der eines Tages mit diesen Bildern, oder vielmehr mit den Hochglanzfotos der Bilder, angekommen war, in seiner Berliner Studentenbude, ein Bildband, zufällig entdeckt, mit Fotos aus Lascaux, eine der am frühesten entdeckten Höhlen; ein Zufallsfund, sagte Franz, während er den Band aufblätterte und die Bilder präsentierte, auf sie hinwies, auf Details die Richard natürlich genauso sehen konnte, aber Franz zeigte die Bilder mit einer Begeisterung, mit einem Stolz, als seien es seine eigenen. Eigentlich, sagte er, suchte ich einen Bildband über frühe Kunst, über Sumerer oder noch früher womöglich, der Buchhändler zog also dieses hier heraus. Er war offenbar froh, daß ich es ihm abnahm, hat noch was nachgelassen; er saß wohl schon lange darauf.
In diesem Moment, in Richards erstem eigenen Zimmer, seiner Bude in Berlin-Lichterfelde, Blick aus dem Fenster auf eine Brandmauer von überzeugender Häßlichkeit, begann sie und hörte nicht mehr auf, seine Leidenschaft für diese Bilder.
Was ihn jetzt forttrieb, war die leere höhlenartige Wohnung, das grelle Neonlicht der Küche, vor allem die Vorstellung, hier vierzehn Tage leben zu müssen, noch dazu an Weihnachten, und Gabriele und Wolf zu besuchen, womöglich an Weihnachten -
Manchmal fragte er sich, ob dieser Wurzellosigkeit, diesen anfallartigen Fluchtbewegungen ein Defekt zugrundeliege, ein ererbter Schaden, zurückzuführen auf einen Vorfahren, der Händler war oder Zigeuner, irgendein fahrendes Volk, nur war ihm nichts bekannt darüber, früher hatte es ihn nicht interessiert, jetzt fehlten alle Personen, die ihn an eine familiäre Vergangenheit binden könnten, die noch etwas wüßten von Großeltern, Urgroßeltern, Ahnen, von deren Leben er nur verschwommen und ungenau wußte. Das Äußerliche. Beruf des Vaters: Metzger. Beruf des Großvaters: Metzger. Die Mutter und die Großmutter, die im Laden gestanden hatten. Und Ähnliches. Aber was sie geglaubt hatten, welche Ängste und Träume sie gehabt hatten, und was sie darüber dachten, daß Nationalsozialismus und Krieg ihnen alles aus der Hand geschlagen hatten, darüber wußte er nichts, das alles war in der allgemeinen Anstrengung zu Wiederaufbau und Verdrängung untergegangen. Als seine Eltern noch lebten, hatte er nicht gefragt. Natürlich waren da noch Gabriele und Wolf, aber es war nicht seine Familie, mit ihnen verbanden ihn keine frühen Erinnerungen.
Er würde sie von unterwegs aus anrufen, auch wenn es ihn anstrengen, belasten würde; seine innere Entfernung von beiden vergrößerte sich mit jedem Gespräch, mit jedem Besuch. Vielleicht nicht so sehr von Wolf, er war resigniert, ja, aber sie mochten sich von Anfang an und Wolf fand in ihm nicht nur einen guten Schachpartner, sondern auch einen verständnisvollen Zuhörer; Gabriele jedoch war jedesmal, wenn sie ihn sah, mit ihm sprechen mußte, einer Art von Auflösung nahe, dem nächsten Zusammenbruch, mit haltlos zwischen Weinkrämpfen und verebbenden Schluchzern hervorgestoßenen Schuldzuweisungen; Tabletten verweigerte sie rundheraus, sie wolle nicht ruhig gestellt werden, schrie sie und schlug nach Wolf; dann war Richard schon im Flur, im Aufbruch. Um Gabriele zu schonen, aber auch um seinetwillen hatte er mit Wolf vereinbart, nicht mehr allzu häufig zu Besuch zu kommen, nach Möglichkeit nur dann, wenn Wolf absehen konnte, daß Gabriele stabil war.
Schon damals, als er sie kennenlernte, in ihrer Kölner Wohnung, Miriams Mutter, wie lange war das her? - fünfundzwanzig Jahre, ja, lag so etwas wie Müdigkeit in ihren Augen, eine leichte Melancholie, große grüne Augen, die Miriam geerbt hatte. Würde auch Miriam, seine schöne Miriam, eines Tages umschattet sein von dieser Art schwarzen Fremdseins? War so etwas vererbbar? Er schob den Gedanken beiseite und heiratete Miriam, gegen Gabrieles Willen. Er würde sie von unterwegs aus anrufen.
Denn er mußte fort. Es war dies ganz sichere Gefühl, das er manchmal hatte, fast immer nach solchen trostlosen Nächten und Tagen, das hatte nichts mit Verstand zu tun, nichts mit irgendeiner Urlaubsplanung, schon das Wort Urlaub war ihm zuwider, es war die ganz schnelle und spontane Entscheidung, die er brauchte, um los zu gehen.
Er fuhr bis Würzburg, blieb jedoch nicht dort, sondern nahm den Nahverkehrszug nach Iphofen. Dort übernachtete er und nach einem Frühstück, das irgendwie an eine Lebensmittelzuteilung erinnerte, zwei Brötchen, ein Stück Butter, Marmelade, zwei Scheiben Käse, zwei Scheiben Blutwurst, eine Scheibe Leberwurst und dazu ein fader Kaffee, nach diesem Frühstück, das ihn nicht satt gemacht hatte, ging er mit schnellen Schritten, ging er so schnell wie möglich zum Steigerwald hin, es dauerte etwa zwei oder drei Stunden, am frühen Mittag war er oben auf dem Kamm, nun brauchte er keine Karte mehr.
Es hatte ein wenig geschneit, daher und weil die Sonne durch die kahlen Bäume scheinen konnte, war alles sehr hell, hier war das Licht, auf das er gehofft hatte, ein glasklares, hartes, weißes Winterlicht, das scharfe schwarze Schatten schlug, die weiter drinnen im Wald ins Bläuliche wuchsen, und am frühen Nachmittag kam Sturm auf, er fuhr oberhalb der Wipfel über ihn hinweg, zerrte die letzten Blätter von den Zweigen, brach hier und da einen Ast ab, der mit einem schweren Akkord durch die Baumkronen nach unten schlug, aber nie auf den Weg, der Sturm ging über ihn hinweg, er hörte ihn, er fand, daß ein Sturm zu einem Wintertag unbedingt dazugehört und erst am Abend, in dem Gasthof, in dem er übernachtete, erfuhr er, daß dieser Sturm mit Geschwindigkeiten von hundert und mehr Kilometern in der Stunde über ganz Westeuropa hinweg gefegt war, er legte ganze Waldteile um, deckte Hausdächer ab, schlug selbst in den Städten Bäume um, die Autos unter sich begruben, auch Menschen, eine Katastophe, er hatte, ohne es zu ahnen, auf diesem Kammweg in der Gefahr geschwebt, von herabstürzenden Ästen erschlagen oder zumindest verletzt zu werden, aber es geschah ihm nichts, kein Baum stürzte um, nur kleinere Äste und der pulverige Schnee und mürbe braune und graue Blätter flogen über den Weg. Er spürte den Sturm, aber nur wie einen starken und angenehmen Wind, der über dem Kammwald, hoch über den Wipfeln der Buchen, der Eichen und Fichten, die Wolken vor sich hertrieb und die bläulichen Schatten aufwirbelte und verschwinden ließ, kalt und klar wurde die Welt um ihn her, er konnte, da der Kammweg gerade war, ohne Auf- oder Abstiege, rasch ausschreiten, er spürte seinen Körper wieder, die Muskeln, die Sehnen, die Gelenke, mit jedem Schritt dehnte er sich, wurde geschmeidiger, jünger. Mittags ging er in ein neben dem Wege gelegenes Dorf, um ein Gasthaus zu suchen und fand keins, das Dorf schien ausgestorben zu sein, wie nach der letzten Pest, dachte er, aber die kleine Dorfkirche war offen, mit wenigen hölzernen Bänken und einem bäuerlichen Altarbild, der Sturm heulte mit merkwürdigen Klagelauten um die Mauern, es klang viel bedrohlicher als im Wald, offenbar verstärkte das Drinnensein, verstärkten die dicken alten Mauern die auf und ab schwellenden, wie von verstorbenen und verlorenen Seelen hervorgestoßenen Klagelaute die Wucht des Geheuls -
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