Anders liegen die Dinge im ehemaligen Dom von Maria Saal. Das ist die älteste bestehende Kirche Kärntens; im 8. Jahrhundert ging von der hoch gelegenen Gottesburg die Missionierung des Landes aus. Das Innere der gotischen Kirche lebt vom Kontrast zwischen einer dunklen, gedrungenen Halle und dem hellen, schlanken Chor. Zur Verhüllung des barocken Hochaltars hat der Künstler Karl Wolschner ein großes Fastentuch mit dem überlebensgroßen Haupt Christ geschaffen. Die dominierenden Brauntöne beziehen sich auf die Fassung des Altars; die Komposition fügt sich seiner Bewegung ein. Alles ist so gewaltig und so bewegt, dass die Kunst vor dem Kitsch kapitulieren muss.
In der Umgebung von Maria Saal findet seit Jahrhunderten am zweiten Freitag nach Ostern ein merkwürdiges christlich-heidnisches Spektakel statt, das Vierbergelauf heißt. Binnen vierundzwanzig Stunden rennen die Teilnehmer der Prozession für ihr Seelenheil vier tausend Meter hohe Berge hinauf und hinunter, dem Lauf der Sonnen hinterher, insgesamt etwa fünfzig Kilometer weit. Einer der vier heiligen Berge ist seit Jahrzehnten noch das Ziel einer etwas anderen Wallfahrt. Dubiose Veteranenverbände aus allen möglichen Ländern, Frontkämpfer und Angehörige der Waffen-SS, auch schlagende Burschenschaften - ultrarechte bis rechtsextreme Gruppierungen nach Einschätzung des Verfassungsschutzes - treffen sich auf dem Ulrichsberg alljährlich zum alkoholisierten Tschingterassabum. Zwar schauten österreichische Landes- und Bundespolitiker schon immer gern vorbei, aber internationale Beachtung fand das Mekka der Neonazis spätestens, als dort Jörg Haider die Waffen-SS und Adolf Hitler hochleben ließ.
Unberührt von schwarzbraunen Umtrieben ist der Sternberg bei Villach, der ebenfalls eine Wallfahrtskirche trägt. Der unbefestigte Weg endet oben vor dem Wallfahrer-Wirtshaus. Die Kirche liegt frei auf einem Felsplateau, umrahmt vom Friedhof. Hier geht der Blick hinüber zu den Karawanken. St. Georg auf dem Sternberg gehört zu den schönsten ländlichen Ensembles des Landes. Alles wirkt bäuerlich, aber nicht naiv und kitschig. Der Innenraum glänzt in schlichter Feierlichkeit. Zwischen Kirchenschiff und Chorraum ist das Fastentuch so exakt in den Durchgang eingepasst wie eine abschließende Bilderwand. Als einziges Tuch bewahrt es so den ursprünglichen Charakter der fastenzeitlichen Inszenierung. Obwohl 1629 ausgeführt, breitete der Maler Jacob Katzner auf der derben Leinwand in vierundzwanzig Szenen noch einmal den ganzen erzählerischen Reichtum mittelalterlicher Bilderzyklen aus.
Am Karsamstag werden die Fastentücher wieder eingerollt. Im Dom von Gurk geschieht das am späten Nachmittag nach der zeremoniellen Fleischweihe. Früher war die Niederlegung des Tuches mit einem herzzerreißenden Spektakel verbunden, in Erinnerung an das Erdbeben und das Zerreißen des Tempelvorhangs in Jerusalem beim Tod Christi. Heute verschwindet das Fastentuch sang- und klanglos im Depot.

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