Die Rechtsprechung kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die vom oströmischen Kaiser Justinian I. im 5. Jahrhundert bis heute reicht. Der „Codex Iustinianus“ ist vermutlich die wichtigste Gesetzessammlung der Spätantike, sie hat die moderne europäische Rechtsprechung vorgezeichnet. Die „Habeas-Corpus“-Akte von 1679 begründet das moderne Haftprüfungsverfahren und die „Petition of Rights“ ist seit 1628 die Grundlage des bürgerlichen Rechts in England. Die Menschenrechte gehen auf die Französische Revolution zurück, obwohl sie einige Jahre vorher schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergeschrieben wurden. Die europäischen Völker haben sich nicht erst seit dem KSZE-Prozess am Ende des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Verantwortung für den Kontinent gestellt. Die erste „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ hat nach dem 30jährigen Krieg stattgefunden, die zweite nach der Vertreibung Napoleons auf dem Wiener Kongress 1815. In beiden Fällen mit unterschiedlichen Ambitionen der Großmächte, aber doch von der Erkenntnis geleitet, den europäischen Kontinent als Ganzes zu betrachten.
Europa ist kohärent
Beginnend bei der griechischen Philosophie sind die Völker Europas von einer gemeinsamen Kultur geprägt. Etwa 500 Jahre vor Christus erhoben griechische Denker den Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Der Reformer Solon hat das 594 v. Chr. in Athen in eine erste „Verfassung“ integriert. Das öffentliche Infrage stellen als philosophisches Prinzip ist die Voraussetzung der Befreiung des Menschen von der Sklaverei gewesen und markiert gleichzeitig den Beginn einer säkularen Welt. Aus diesen Grundlagen folgen Renaissance, Humanismus oder Aufklärung. Selbst wenn diese Denkströmungen durch Kriege lange Zeit verschüttet oder nicht erkennbar waren, haben sie den europäischen Kontinent überzogen, die Völker berührt und ihre Kulturen beeinflusst.
Europa ist christlich
Dieser Kontinent ist spätestens seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert von der römischen Kirche geprägt worden. Der römische Kaiser Theodosius I. hat das Christentum faktisch zur Staatsreligion erhoben und damit seine Ausbreitung dem staatlichen Schutz unterstellt. Die frühen Christen haben eifrig von diesem Schutz Gebrauch gemacht und teilweise mit der Waffe in der Hand „das christliche Abendland“ geschaffen. Gleichzeitig haben sie über viele Jahrhunderte an den Grenzen Europas, die nur im Südosten schwer zu definieren sind, eine Demarkationslinie zu anderen Religionen, insbesondere dem Islam, gezogen. Das ist eine Bürde, mit der sich das moderne Europa jetzt herumschlagen muss. Die über viele Jahrhunderte starre, dogmatische Haltung der Päpste in Rom hat Antiströmungen provoziert. Die Aufklärung, der Protestantismus, aber auch die vielen mittelalterlichen Bettelorden sind ohne die von Dekadenz und Selbstüberschätzung gleichermaßen angefressene römische Kirche nicht zu verstehen. Das jüdisch verwurzelte Christentum und die Aufklärung sind die beiden Seiten einer europäischen Medaille.
Einer ist nicht stärker als die anderen zusammen
Europas Geschichte ist die Geschichte von Kriegen. Beinahe jede europäische Generation zwischen dem 6. vorchristlichen Jahrhundert und dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat den Krieg als eine Art Dauerzustand erleben müssen. Dabei ging es meistens um Landgewinne, Eroberung von Rohstoffen oder schlichten Racheaktionen. Der 30jährige Krieg war zwischen 1618 und 1648 insofern eine Ausnahme, als er zumindest am Anfang ein Krieg um die Religionsfreiheit war. Nicht selten haben die europäischen Großmächte versucht, die alleinige Macht in Europa zu erlangen. Das ist in jeden Fall gescheitert. Die Ostfranken und ihr „Heiliges Römisches Reich“, die Universalmonarchie eines Karl V., Napoleon, Wilhelm II. oder Hitler haben versucht, eine europäische Hegemonie aufzubauen, die es während des Imperium Romanum zumindest über einen Teil des Kontinents gegeben hat. Sie sind am Widerstand der anderen europäischen Völker – und im Zweiten Weltkrieg der USA – gescheitert: Einer ist nicht stärker als die anderen zusammen!
Ideen verändern, Kriege nicht
Europa hat eine lange Kriegsgeschichte hinter sich und doch ähneln sich die Landkarten der letzten 1200 Jahre sehr. Mitunter sind Grenzen verschoben und Millionen Menschen getötet oder vertrieben worden. Aber Franzosen, Deutsche, Spanier, Italiener, Kroaten oder Russen – um nur einige zu nennen – leben an nahezu der gleichen Stelle der europäischen Topographie wie ihre Vorfahren. Während also Kriege nur kurzfristig Zerstörung und Tod gebracht haben, ist Europa durch Ideen nachhaltig verändert worden: Christentum, Aufklärung, Perestroika. Deren Spuren prägen das Leben der Menschen in Europa auch viele Hundert Jahre nach ihrer Entstehung. Ideen verändern nachhaltig.
Deutschland ist ein Durchreise- und Einwanderungsland
Die geostrategische Lage gibt – etwas pathetisch formuliert – das Schicksal der Deutschen vor. Sie wohnen in der Mitte eines Kontinents, dessen Bewohner seit Jahrtausenden mobil sind. Händler und Handwerker, Kriegsheere und Elendsflüchtlinge, Heimatvertriebene und Menschen, die ihr Glück gesucht haben, sind durch dieses Land gereist. Manche sind geblieben, haben Familien gegründet, manche haben das Land wieder verlassen. Die germanischen Vorfahren der Deutschen, die vor und während der Völkerwanderung hier hergekommen sind, haben sich auf ihrer langen Reise ethnisch verändert. Sie sind in einer anderen Zusammensetzung angekommen als sie losgegangen sind. Die Deutschen sind immer schon ein Volk gewesen, das wegen seiner Lage in der Mitte Europas „gemischt“ gewesen ist. Die Idee des „reinrassigen Deutschen“ oder der „germanischen Rasse“ ist Blödsinn.
Die „deutsche Frage“ ist Jahrhunderte alt
Deutschland liegt in der Mitte des Kontinents. Durch das Land führen fast alle wichtigen Handelswege. Für die europäischen Randstaaten, von denen einige eine lange Zeit Großmächte waren, ist es wichtig gewesen, wer in der Mitte geherrscht und die Regeln bestimmt hat. Wer das Zentrum des europäischen Kontinents passieren wollte, ist abhängig von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen in Europas Mitte gewesen. Es lag also durchaus im Interesse der europäischen Außenmächte, dass sich die Deutschen in der Mitte des Kontinents nicht auf einen gemeinsamen Staat einigen konnten. Stattdessen gab es bis zu 350 Einzelstaaten auf deutschem Boden. Es kam den Randmächten entgegen, dass der Prozess der Nationalstaatswerdung, der Europa am Ende des 18. Jahrhunderts erreicht, an Deutschland lange Zeit vorbeigegangen ist. Mehr noch: Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden die deutschen Partikularstaaten zu Subjekten des Völkerrechts und konnten fortan Verträge mit andern Staaten abschließen. Die europäischen Mächte haben die deutschen Territorialfürsten also gegen die kaiserliche Zentralmacht gestützt. Die Deutsche Revolution von 1848 ist an der „deutschen Frage“ gescheitert, weil man sich nicht einigen konnte, wer eigentlich zu Deutschland gehört und wer nicht. Die beiden Versuche des 20. Jahrhunderts die „deutsche Frage“ mit Gewalt zu lösen, gehören ebenfalls in diese Reihe. Im Übrigen ist auch diese Frage nicht mit kriegerischen Mitteln gelöst worden, sondern durch Diplomatie nach einer erfolgreichen und friedlichen Revolution in Ostdeutschland. Erst mit der deutschen Einheit und der europäischen Integration des vereinten Deutschlands ist die „deutsche Frage“ gelöst – ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.
Die Teile dominieren das Ganze
Für die deutsche Geschichte ist die starke Position der Partikulargewalt kennzeichnend. Zwar haben deutsche Kaiser über große Teile Europas geherrscht, aber sie hatten kein eigenes Heer. Ohne die deutschen Fürsten ging nichts im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“. Aus dieser Gemengelage hat sich über die Jahrhunderte eine besondere Tradition des „Gebens und Nehmens“ entwickelt. Wenn der Zentralstaat etwas wollte, dann mussten die Territorialstaaten entweder der gleichen Meinung sein oder durch Zugeständnisse, Geldzahlungen, neue Privilegien oder sonstige Vergünstigungen „überzeugt“ werden. Daraus ist ein institutionalisiertes Mitspracherecht entstanden. Dieser Föderalismus ist historisch gewachsen und eine der Konstanten in der deutschen Geschichte. Die Ministerpräsidenten von heute sind die Nachfolger der Territorialfürsten des Mittelalters – und sie benehmen sich manchmal auch so.
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