Beunruhigt beeilte er sich Mirlia und Felice einzuholen.
Was es auch war, das ihn störte, es entzog sich den äußeren Sinnen. Es war nur ein Gefühl, eine schwache Ahnung, beobachtet zu werden. Doch gewöhnlich konnte er sich auf Ahnungen, die ihn vor Gefahr warnten, verlassen.
„Minerva“ rief er in Gedanken. Doch falls die hohe Frau auf sein Rufen kam, war sie nicht vor der Nacht zu erwarten, da sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang den Forst von Arkarion bewachte. Am nächsten Abend konnten sie Kerma, die einzige Stadt zwischen dem Wald der Schwelle und den Bergen, erreichen. Dort wäre es leichter einen möglichen Verfolger abzuhängen, aber im Moment konnte er nicht mehr tun, als wachsam zu bleiben und einen starken Schutzbaum für die Nacht zu suchen.
Tom versuchte die Beklemmung abzuschütteln. Er glaubte nicht, dass sie in unmittelbarer Gefahr schwebten und er wollte die wenige Zeit, die er mit Mirlia hatte, genießen. Sobald sie Kerma erreichten, würden sich ihre Wege trennen.
Mirlia sah Tom erstaunt an, als er sie ohne Vorwarnung an sich zog, sobald er sie eingeholt hatte.
„Tom“ flüsterte sie. „Tom, ich bin doch noch da.“ Sie lachte leise und löste sich leicht von ihm. Tom küsste sie auf die Stirn, verbannte den Schmerz in sein Inneres und lächelte. Wenn er so weitermachte, verwirrte er nicht nur Mirlia, sondern verletzte auch Felice. Diese hatte den Blick abgewandt und war weitergegangen, als ob sie nichts bemerkt habe.
Sie wanderten den ganzen Tag weiter, ohne dass etwas Nennenswertes passierte. Nachdem sie am Nachmittag die Hauptstraße Richtung Kerma betreten hatten, verschwand auch das Gefühl, beobachtet zu werden.
Mirlia hatte ein so fröhliches Wesen, dass Felice und Tom von ihrer guten Laune angesteckt wurden. Allerdings fiel Tom auf, dass Felice zwar munter mit Mirlia redete, ihm jedoch auswich und am Nachmittag hinter ihnen zurückzufallen begann. Gegen Abend wichen sie von der Straße ab und Tom fand ein Stück querfeldein, was er suchte: eine schöne starke Eberesche, die ihnen genügend Schutz vor magischen Angriffen in der Nacht bieten würde.
Felice entschuldigte sich gleich nach dem Essen, dass sie müde sei und legte sich schlafen. Doch Mirlia war aufgedreht und neckte Tom wie ein kleines Mädchen so lange, bis er hinter ihr herrannte, während sie lachend davonsprang. Eine Weile spielten sie Haschen wie Kinder, doch schließlich zog Tom Mirlia neben sich ins Gras. Sie lehnte ihren Kopf schwer atmend an seine Schulter.
„Mirlia“, sagte er leise.
„Hm?“ fragte sie. Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. „Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass du dich von mir verabschieden willst“, flüsterte sie. Es fiel Tom nicht leicht, weiterzusprechen, doch wie würde sie sich fühlen, wenn er einfach nicht mehr auftauchte? Und wie würde er sich fühlen?
In der Ferne versank die Sonne blutrot hinter den Bergen. Er betrachtete sie und sann über den Zyklus von Leben und Tod, Kommen und Gehen, Werden und Vergehen nach.
„Mirlia, ich werde gehen“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Und vermutlich werde ich nicht zurückkommen – aber niemand, außer dir, darf es erfahren.“ Schweigend starrten sie beide in den farbenprächtigen Abendhimmel.
„Warum?“, wollte sie endlich wissen. Tom zuckte mit den Schultern.
„Alles muss zu Ende gehen... So wie dieser Tag. Das ist das Schicksal aller vergänglichen Dinge.“
Forschend sah sie ihn an. „Wirst du sterben?“, fragte sie. Tom lächelte und strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht. „Irgendwann werde ich sterben.“ antwortete er. „Aber ich denke, das dauert noch eine Weile.“
Eine Zeit lang schwiegen sie.
„Ich glaube, dies ist unser letztes Wiedersehen“, sagte er schließlich.
Tiefe Traurigkeit ergriff Besitz von seinem Herz. Er kannte Mirlia so lange; sie war seine liebste Freundin und jetzt war es zu Ende. Sie bettete ihren Kopf an seine Brust und er spürte, dass sie weinte.
Als sie sich schließlich erhoben und zum Lager zurückgingen, wo Felice tief und fest schlief, war es bereits dunkel und die ersten Sterne standen am Himmel. Tom ließ Mirlia dort zurück und schritt noch einmal in die Nacht hinaus.
„Minerva“, rief er in Gedanken.
„Ich bin hier“, antwortete sie. In Eulengestalt flog sie dicht über ihn hinweg, streifte ihn mit einer Flügelspitze und ließ sich, da es keinen anderen Landeplatz gab, auf seiner Schulter nieder.
„Du denkst, du hast mich umsonst gerufen“, erklang ihre Stimme in seinem Kopf, bevor er etwas sagen konnte.
„Habt Dank, dass Ihr gekommen seid“, antwortete Tom ehrerbietig. „Ich glaubte, mit Hilfe von Magie beobachtet zu werden. Doch mein Verdacht scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Es war nur ein vages Gefühl“, teilte er ihr mit.
Minerva lachte. „Du hast mich nicht gerufen, weil jemand euch beobachtet haben könnte, sondern weil du Angst hattest, Angst um...“ Sie ließ den Satz unvollendet.
Tom senkte den Kopf. Er wusste, dass sie Recht hatte. Er wechselte das Thema. „Vergile hat mich in die Falle gelockt“, meinte er. „Ich verstehe nicht, wieso er Felice vergiftet hat, aber ich bin mir sicher, dass er wusste, dass ich rechtzeitig kommen würde. Dass er später nach ihrem Namen fragte, diente nur dazu, mich auf sie aufmerksam zu machen. Ich sollte sicher mitbekommen, dass er sie ins Herrenhaus lockte.“ Tom konnte seine Wut nur schwer bändigen. „Vergile ist viel zu mächtig, als dass es mir so leicht fallen konnte, Felice zu retten. Alles, was er wollte, war, mich dazu zu zwingen, ihm das Amulett zu bringen. Das hat er jetzt erreicht. Ich habe seine Pläne nicht durchkreuzt, sondern ihm in die Hände gespielt.“
„Vergile kennt dich gut“, erwiderte Minerva. „Doch auch wenn du Recht hast, ändert das nichts an den Tatsachen. Hättest du Felice nicht geholfen, wäre sie jetzt tot oder Schlimmeres.“ Sie schwiegen. Die Nacht lag wie eine dunkle Decke über ihnen und es waren kaum Geräusche zu hören.
„Vertraue auf dein Gefühl, sonst wird es dich eines Tages im Stich lassen!“, hallte Minervas Stimme in seinem Kopf. Sie erhob sich mit zwei Flügelschlägen in die Lüfte, dann war sie verschwunden.
„Vertraue auf dein Gefühl…“, hieß das, das tatsächlich eine Gefahr bestand? Müde und in Gedanken versunken kehrte Tom zum Lagerplatz zurück. Dort angekommen blieb er stehen. Auf den ersten Blick fiel ihm auf, dass Felices Schlafplatz leer war.
„Felice?“, rief er leise, doch er bekam keine Antwort. Im Dunkeln konnte er auch nicht weit schauen.
Für einen kurzen Augenblick stieg Angst in ihm hoch. Doch dann zog sein Verstand mit seinen Gefühlen gleich. Mirlia schlief noch seelenruhig. Hätte jemand versucht Felice mit Gewalt zu entführen, wäre sie aufgewacht. Vor magischen Angriffen bot die Eberesche, unter der sie schliefen, genügend Schutz, außerdem konnte er keine fremde Magie spüren. Das konnte nur bedeuten, dass Felice das Lager freiwillig verlassen hatte.
Lauschend verharrte er einen Moment und machte sich dann Richtung Norden auf den Weg. Er brauchte nicht weit zu gehen. Felice saß etwas entfernt mit dem Rücken zu ihm auf einem flachen Stein. Ihr Haar schimmerte matt im Mondlicht. Lautlos, wie es seiner Gewohnheit entsprach, näherte Tom sich ihr. Erschrocken zuckte sie zusammen, als er plötzlich neben ihr auftauchte.
„Psst, Felice, ich bin es nur“, beruhigte er sie.
„Oh“ sagte sie mit brüchiger Stimme und wischte sich verstohlen über das Gesicht, um die Tränen zu beseitigen, die darauf glitzerten. Tom betrachtete sie.
„Wie schön sie ist“, dachte er, doch laut sagte er nur: „Du hast wieder geweint.“
Sie zuckte mit den Schultern und wandte das Gesicht ab. Geschmeidig ließ er sich vor ihr zu Boden gleiten.
„Willst du nicht mit mir darüber sprechen?“, fragte er in dem Bewusstsein, dass sie es ablehnen würde. Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht“, stieß sie hervor und neue Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Читать дальше