„Ich kann den Weg nicht finden und hier ist es gefährlich“, keuchte Felice.
„Wenn du den Weg finden willst, musst du nur hinschauen“, erwiderte er. Und plötzlich konnte sie sehen, dass er auf dem Weg stand, der im strahlenden Sonnenlicht, nicht weit von ihr, durch den Wald verlief.
Felice erwachte mit einem brennenden Gedanken: Sie wollte von Tom lernen.
Es war ihr peinlich, dass sie von ihm geträumt hatte, doch immerhin hatte er ihr Leben völlig über den Haufen geworfen und daher war es wahrscheinlich nur natürlich.
Da es noch dunkel war und er regungslos in dem Bett neben ihr lag, drehte sie sich auf die andere Seite und schlief traumlos bis zum Morgen.
Als Felice wach wurde, hatte Tom das Zimmer bereits verlassen. Sie beeilte sich mit dem Anziehen und ging in den Essraum, wo sie ihn allein am Tisch sitzend fand. Freundlich schob er ihr eine Schale mit Brei zu, der allerdings nicht sehr Appetit anregend aussah.
Auf einmal fühlte sie sich unsicher und wusste nicht, ob sie ihn tatsächlich fragen sollte, sie zu unterrichten. Um Zeit zu gewinnen, schob sie sich Brei in den Mund, ohne wirklich etwas zu schmecken. Halb hoffte sie, dass Tom aufstehen würde und sie ihre Frage auf später verschieben musste. Doch er blieb sitzen und schließlich war ihre Schale leer.
Sie räusperte sich und begann zögernd zu sprechen: „Kann ich Euch etwas fragen?“ Tom sah sie an und nickte. Obwohl er eine abwartende Haltung einnahm, hatte sie das Gefühl, dass er bereits wusste oder zumindest erahnte, was sie wollte.
„Vor ein paar Tagen habt Ihr gesagt, was Ihr tut, sei... lebendige Mathematik“, begann Felice und errötete bei dem Gedanken, dass ihre Absicht leicht zu durchschauen war. Doch Tom hörte schweigend zu. Da er nichts sagte, fuhr sie fort: „Mathematik kann man lernen... was Ihr tut auch?“
Tom lächelte. „Man kann alles lernen. Wenn man den Willen dazu hat“, antwortete er.
„Und würdet Ihr mich unterrichten?“, fragte Felice nervös, da er nicht weitersprach.
Er beugte sich leicht zu ihr vor und sah ihr mit funkelndem Blick in die Augen. Felice hatte das Gefühl, dass er bis auf den Grund ihres Seins schaute. Verlegen schlug sie die Augen nieder und plötzlich, ohne dass sie einen Grund dafür nennen oder es verhindern konnte, spürte sie, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Sie wusste nicht warum, aber sie war auf einmal traurig. Sie wollte sich abwenden, davonlaufen, um den unerklärlichen Schmerz zu verbergen, doch Tom fasste ihre Hand und hielt sie zurück.
„Schäme dich nicht für deine Tränen“, sagte er leise. „Sie zeigen, wer du bist.“ Er strich eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, sanft hinters Ohr. Seine Finger berührten dabei leicht ihre Haut und sie erschauerte.
„Sieh mich an. Hab keine Angst. Es liegt nicht in meinem Bestreben dir weh zu tun“, fügte er sanft hinzu. Felice versuchte zu lächeln und ihn anzusehen, es kamen jedoch immer neue Tränen und sie konnte seinem Blick nicht standhalten.
„Magie hat nichts mit Harry–Potter–Zauberei zu tun“, begann Tom ernst. „Es dauert viele Jahre und fordert viel Selbstdisziplin, wenn man wirklich etwas erreichen will.“ Er hielt inne. Felice spürte die Wärme, die seine Hand, die die ihre immer noch umfasst hielt, ausstrahlte.
„Ich kann dir in der kurzen Zeit, die unsere Reise dauert, ein paar Grundsätze zeigen. Doch Vieles wirst du erst später wirklich verstehen. Und es gibt eine Bedingung“, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. „Der Umgang mit Magie ist kein Spiel. Wenn ich dich unterrichte, bin ich dein Lehrer und trage Verantwortung für dich. Deshalb musst du meinen Anweisungen bedingungslos Folge leisten.“
Tom sah sie durchdringend an. „Egal was es ist, egal wie unsinnig es dir erscheint und egal was es dich selbst kosten mag, du musst gehorchen. Ich will, dass du begreifst, was es bedeutet. Du wurdest zu einem Menschen erzogen, der seine eigenen freien Entscheidungen trifft. Du musst auf diese Freiheit verzichten. Kannst du das?“
Obwohl Felice ihn nicht ansah, spürte sie die Blicke, die sie durchdrangen. Tom hatte ihre Hand losgelassen.
„Du gibst mir viel Macht über dich. Das heißt, du musst dir sicher sein, dass du mir vertraust“, sagte er leise.
„Ich vertraue Euch“, erwiderte Felice prompt. Toms Worte waren nicht sehr ermutigend gewesen, aber sie übten einen eigenartigen Sog auf sie aus.
„Versprich mir, dass du mir gehorchst!“, forderte er, mit einem scharfen Unterton in der Stimme.
Felice zögerte. „Wenn ich irgendwann meine Meinung ändere...“, fragte sie vorsichtig.
„Bist du frei“, beendete Tom den Satz für sie. „Ich will nicht deinen Willen brechen, sondern dich schützen.“
„Gut. Ich verspreche, Euren Anweisungen zu folgen“, sagte Felice. Halb war sie erleichtert, halb fragte sie sich bereits, ob sie nicht doch einen Fehler gemacht hatte, solch ein Versprechen abzugeben. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie verrückt war, einem Menschen, den sie kaum kannte, soviel Vertrauen entgegen zu bringen. Sie war sich sicher, dass er die Macht hatte, sie an ihr Versprechen zu binden und sie es nicht einfach brechen konnte.
Schulterzuckend schob sie den Gedanken beiseite.
„Vermutlich hatte er auch ohne das Versprechen zu viel Macht über mich“, dachte sie verdrossen.
Männer wie Tom faszinierten sowohl Männer als auch Frauen mit ihrem Charisma. Sie schenkten allen Menschen gleichermaßen ihre Aufmerksamkeit, hatten jedoch nur wenige enge Freunde. Die Menschen erzählten ihnen ihre tiefsten Geheimnisse, doch aus ihnen waren kaum persönliche Informationen herauszubekommen. Es war nicht klug sein Herz an einen Menschen wie ihn zu verlieren, denn entweder hatte er seine Dame bereits gewählt, hatte nur kurze oberflächliche Rendezvous mit einzelnen Frauen oder ging dem weiblichen Geschlecht völlig aus dem Weg.
„Meister Tom!“ Makian, der blonde Junge ihrer Gastgeber, kam in den Raum gestürmt. Lächelnd wandte Tom ihm seine Aufmerksamkeit zu.
Der Junge blieb ehrerbietig vor ihm stehen. Es war ihm anzusehen, dass es ihm schwer fiel, seine Begeisterung zu zügeln. „Darf ich Euch bei Eurer Arbeit zuschauen?“, fragte er, nach Atem ringend. Er musste ein ganzes Stück gerannt sein, um noch rechtzeitig zu Hause anzukommen.
„Ein wenig“, nickte Tom freundlich. Geschmeidig stand er auf und bedeutete Felice mitzukommen.
„Die alte Worna hat Schmerzen in den Fingern und in den Knien. Onkel Berland sagt, er hat die Schlafkrankheit und will am liebsten gar nicht mehr aufstehen und Marlia bekommt bald ein Baby. Aber sonst weiß ich nichts“, erzählte der Junge fröhlich, während sie das Haus verließen und einer schmalen Gasse durch das Dorf folgten.
„Gut“, erwiderte Tom. „ Dann gehen wir zuerst zu Worna.“
Worna war, wie sich herausstellte, ein altes Mütterchen, das alleine in einer Hütte am Rand des Dorfes wohnte. Während Tom mit ihr sprach, warteten Makian und Felice vor der Tür. Die Sonne schien und sie machten es sich auf dem Gartenmäuerchen bequem. Makian sah sie von der Seite an.
„Wart Ihr traurig, vorhin, als ich gekommen bin?“, fragte er zaghaft.
„Das hast du gemerkt?“, lächelte Felice.
Makian zuckte mit den Schultern. „Meister Tom sagt, man muss immer darauf achten, wie es den Menschen geht, dann erzählen sie einem auch etwas. Und nur dann kann man ihnen helfen.“ Mit einem Seufzer sah er Felice an. „Ich möchte auch mal werden wie Meister Tom.“ Seine Augen begannen bei der Vorstellung zu leuchten.
Felice nickte. „Das glaube ich dir gerne“, erwiderte sie. In diesem Augenblick rief Tom nach Makian und der Junge sprang davon. Es dauerte eine ganze Weile, bevor sie wieder aus der Hütte traten und sie sich zusammen auf den Weg zu Marlia, der schwangeren Frau, machten.
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