„Hat Vergile eine Andeutung gemacht, was er von dir wollte?“, fragte er sie.
Stirnrunzelnd versuchte sich Felice an den Abend zu erinnern, als sie töricht wie ein kleines Mädchen in Vergiles Falle gelaufen war. Allerdings hatte sie etwas anderes zu tun gehabt, als auf das verrückte Gerede, das er von sich gab, zu hören. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern...“, sagte sie. Sie ließ die Szene innerlich ablaufen und stockte. „Wartet... doch... Er sagte, ich sollte etwas für ihn finden.“
Tom warf Minerva einen Blick zu. „Das bestätigt meine Vermutung“, sagte er ruhig. Irritiert sah Felice zwischen den beiden hin und her. Offensichtlich hatten sie schon gewusst, was Vergile wollte und nur eine Bestätigung gebraucht. Und was es auch war, besonders glücklich war zumindest Tom nicht.
„Ihr müsst morgen früh aufbrechen“, hallte Minervas Stimme in Felices Kopf. „Der Durchgang ist nur in den Dämmerstunden der Sonnenwendtage offen.“ Ohne ein weiteres Wort verwandelte sie sich in den Vogel zurück und flog in die Nacht hinaus.
„Hm? Was?“, fragte Felice völlig perplex. Sie hatte keine Ahnung, was diese Bemerkung bedeuten sollte und ob der „Rat“ schon zu Ende war.
„Vergile ist kein Mensch“, sagte Tom leise.
„Nee, sondern ein Monster“, dachte Felice, doch sie sprach es nicht aus.
„Er kommt aus dieser Welt“, fuhr Tom fort „und hängt durch... einen unglücklichen Umstand seit vielen Jahren auf der Erde fest. Sein sehnlichster Wunsch ist es, zurückzukehren. Dafür braucht er... ein Amulett. Wenn er das Amulett bekommt, wird er sein Interesse an dir verlieren. Wir müssen es finden, damit du in deine Welt zurückkehren kannst“, schloss er.
„Aber es gibt einen Haken“, stellte Felice vorsichtig fest. „Weiß man, wo dieses Amulett ist, oder müssen wir die ganze Welt danach absuchen?“
„Es ist bekannt, wo es sich befindet“, erwiderte Tom. „Nur ist es nicht ganz ungefährlich, dorthin zu gelangen.“
„Na, solange wir´s überleben“, sagte Felice, in betont munterem Tonfall.
„Das hoffe ich“, antwortete er und stand auf „Wir müssen morgen früh aufbrechen. Gute Nacht.“
Er nickte ihr kurz zu und stieg die Leiter nach oben. Nach einem kurzen Moment folgte sie ihm.
Mit einem Seufzer stellte Felice ihren Rucksack ab und ließ sich daneben zu Boden fallen. Tom warf ihr einen belustigten Blick zu, legte das Brennholz ab, das er auf dem Weg gesammelt hatte, und begann die Feuerstelle mit Steinen einzugrenzen.
Seit drei Tagen liefen sie durch den Wald von Arkarion und Felice wünschte sich, dass sie endlich ihr Ziel erreichten oder zumindest die Landschaft sich veränderte. Sie hatte das ewige Braungrün des Frühlingswaldes und den schmalen Trampelpfad, der immer wieder zwischen Farnen und Moosen verschwand, gründlich satt. Allmählich hatte sie das Gefühl blind zu werden. Außerdem waren sie keiner Menschenseele begegnet, was bedeutete, dass sie unter freiem Himmel schlafen mussten und das war im April nicht gerade ein Vergnügen. Zwar hatten sie Decken mitgenommen, aber die konnten die Kälte nicht völlig abhalten, der Boden bestand nicht gerade aus Schaumstoff und satt wurde sie auch nicht.
Tom schien sich von den Umständen nicht beeindrucken zu lassen. Ruhig ging er immer im selben Schritt vorwärts, war stets freundlich, sprach jedoch kaum ein Wort.
„Wandert Ihr oft hier?“, fragte Felice, als das Feuer in Gang gekommen war und sie ihre kärgliche Mahlzeit einnahmen.
Tom nickte. „Ich kenne dieses Land gut“, sagte er leise.
Felice hatte das Gefühl, dass es zu diesem Satz noch einige Gedanken mehr gab, doch er redete nicht weiter. Sie hätte das Gespräch gerne ins Laufen gebracht, einerseits weil Tom nie etwas über sich erzählte und jede Andeutung eine Errungenschaft war, andererseits weil sie fürchtete, dass er sie nach dem Essen wieder für mehrere Stunden alleine lassen würde. Er tat das jeden Abend und sie gruselte sich allein im dunklen Wald, auch wenn sie das nicht zugeben würde.
„Wo geht Ihr hin?“, fragte Felice, bevor sie sich bremsen konnte, als er sich erhob.
Er sah sie an. „Ich bleibe in der Nähe, du brauchst keine Angst zu haben“, antwortete er sanft.
„Ich habe keine Angst“, erwiderte sie hastig und wurde rot. „Bingo“, dachte sie, als er sie spöttisch ansah. Natürlich wusste er, dass sie log und sie hatte sich lächerlich gemacht.
Tom wandte sich ab und verschwand im Wald. Sofort fühlte Felice sich beobachtet. Mit sturem Blick starrte sie ins Feuer und versuchte den Wald um sich her auszublenden. Die Geräusche allerdings konnte sie nicht ignorieren. Es raschelte und knackte und in der Ferne begann ein Wolf zu heulen.
„Der hat bestimmt noch nicht zu Abend gegessen“, überlegte Felice. Sie fragte sich, was Tom machte und ob er gegen Angst immun war, da er kein Problem damit hatte, alleine abseits der Wege im Dunkeln umherzustreifen.
Ein zweiter Wolf stimmte in das Geheul ein und verdrängte Tom aus ihren Gedanken. Es schien ihr, dass das Heulen deutlich näher klang und sie begann sich auszumalen, wie die Wölfe auf lautlosen Pfoten heranschlichen. Das Heulen verstummte jäh, ein Windstoß fuhr durch die Zweige der Bäume und ließ Felice erschauern.
„Hör auf damit! Sonst fängst du noch an, an Geister zu glauben“, befahl sie sich. Zwei Minuten später fiel ihr ein, dass die unsichtbaren Wächter auch Geister gewesen waren. Unruhig rutschte sie auf ihrem Platz hin und her. Doch sie war erschöpft und allmählich verwebte sich das Rascheln der Blätter mit ihren Gedanken und ging dann in chaotische Träume über.
Das Nächste, was sie mitbekam, war ein trüber Morgen und die ersten Tropfen des nahenden Regens, die ihr ins Gesicht fielen. Tom war bereits aufgestanden und Felice war sich durchaus nicht sicher, ob er überhaupt geschlafen hatte. Sie rappelte sich hoch und begann zerstreut ihre Sachen zusammenzupacken.
„Bald erreichen wir den Waldrand und gegen Mittag kommen wir in ein Dorf, wo wir einen Tag Rast einlegen können“, munterte Tom sie auf. Die Aussicht, den Wald endlich hinter sich zu lassen, war tatsächlich eine Nachricht, die ihre Laune hob. Obwohl es unter den Bäumen wahrscheinlich trockener blieb, sollte es anfangen zu regnen.
Doch der Regen ließ auf sich warten. Erst als sie die Baumgrenze erreichten entlud er sich wolkenbruchartig über ihnen.
„Na, perfektes Timing!“, dachte Felice sarkastisch, während sie hinter Tom her stolperte, der in seinem schwarzen Umhang auch im Regen noch beeindruckend wirkte. Innerhalb weniger Minuten waren sie bis auf die Haut durchnässt und der Weg glich einem Schlammbad.
Schwer und Kalt klebte das Kleid an Felices Körper, schlang sich um ihre Beine und machte das Vorwärtskommen schwierig. Ihre Schuhe und der Saum des Kleides waren völlig mit Schlamm durchtränkt, der beim Gehen unangenehm über die Haut scheuerte. „Super! Ganz große Klasse!“, schimpfte sie leise vor sich hin und dachte an imprägnierte Regenkleidung, eine heiße Badewanne und Zentralheizung. Aber was auch immer sie im nächsten Dorf erwartete, diese Dinge waren ganz sicher nicht dabei.
Nach einer Weile ließ der Regen nach und als sie das Dorf erreichten, hörte er schließlich ganz auf. Eine breite, unbefestigte Straße, die nach dem Unwetter Sumpfqualitäten angenommen hatte, führte zwischen den dicht an den Boden geduckten Häusern entlang. Die Gebäude waren einstöckig und entbehrten jeden Luxus. Die Bewohner mussten entweder sehr arm sein oder hatten die Unterkünfte nur zweckmäßig zum Schlafen errichtet und hielten sich tagsüber woanders auf.
Tom schritt zu einem kleinen Platz, wo sich mehrerer Wege trafen und der die Mitte des Dorfes darzustellen schien. Dort stand ein größeres Haus, das sogar über ein zweites Stockwerk verfügte.
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