„Herr Andarin“, begann Felice, doch er unterbrach sie. „Nenn mich Tom“, sagte er sanft.
Sie blickte ihm nicht ins Gesicht, als sie weitersprach. „Ich... hm... woher weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann, dass Sie nicht Ihr eigenes Spiel spielen? Das alles hört sich nach einer längeren Aktion an und warum sollten Sie das für mich tun? Wir kennen uns kaum.“
Nachdem sie geendet hatte, folgte eine längere Pause. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Reaktion. Immerhin hatte er ihr bereits das zweite Mal das Leben gerettet und, falls das nicht Teil seiner Pläne gewesen war, hatte er guten Grund wütend zu werden. Es war mehr ein Reflex als eine überlegte Bewegung, dass sie zurückwich, als er auf sie zutrat.
„Sieh mich an“, sagte er leise. „Ich kann dich nicht dazu `bringen´, mir zu vertrauen, es gibt keine Beweise dafür, dass ich die Wahrheit spreche. Wahrheit erkennt nur das Herz - Augen und Verstand sind oft blind für sie.“ Er schwieg einen Moment, doch Felice konnte mit den flüchtigen Blicken, mit welchen sie sein Gesicht streifte, nicht erkennen, was in ihm vorging. In seinen Augen brannte ein Feuer, dem sie nicht standhalten konnte und so irrte ihr Blick ziellos umher.
„Ich kann nicht abstreiten, dass ich persönliche Gründe habe, herauszufinden, warum Vergile was von dir wollte und danach zu handeln“, fuhr er schließlich fort und Felice war sich bewusst, dass er sie beobachtete, während er sprach. „Doch diese Gründe haben nichts mit dir zu tun. Ich verspreche dir, dass ich nicht vorhabe, dir in irgendeiner Weise Leid zuzufügen.“
Eine Zeit lang sagte niemand ein Wort, und um der unangenehmen Situation zu entkommen, ging Felice zum Tisch und setzte sich. „Schön, ich kann das eh nicht nachprüfen“, dachte sie. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als auf ihn zu hören. Mit oder ohne Vertrauen.“
„Warum haben Sie mir das nicht schon gestern erzählt?“, fragte sie stirnrunzelnd und versuchte sich an den letzten Abend zu erinnern.
„Du warst in keinem besonders guten Zustand“, erwiderte er.
„Ich kann mich nicht richtig erinnern“, sagte Felice nachdenklich. „Da war der Tisch... Sie sagten irgendetwas zu mir... und dann weiß ich nichts mehr.“
„Dafür sollte ich mich entschuldigen“, erwiderte Tom ernst. „Du machtest den Eindruck, dass du gleich durchdrehen und losschreien würdest. Ein wenig Baldrian sollte helfen, doch du warst so erschöpft, dass du auf der Stelle eingeschlafen bist. Es war ein Eingriff in deinen Willen. Es tut mir leid.“ Obwohl sie ihn immer noch nicht ansah, hatte Felice das Gefühl, dass er meinte, was er sagte. Auch wenn sie, abgesehen von der Entschuldigung, nichts verstand; immerhin hatte er ihr ja nichts eingeflößt, damit sie schlief.
„Iss jetzt und ruh dich aus. Wenn es dunkel ist, werden wir uns mit der Hohen Frau beraten und wer weiß, was morgen ist“, fügte er hinzu. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, standen Brot und eine Schale Obst auf dem Tisch. Erschrocken lehnte sie sich so schnell zurück, dass ihr Stuhl umkippte. Doch plötzlich stand Tom neben ihr und hielt sie fest.
„Vorsicht“, sagte er und stellte den Stuhl wieder gerade. „Es sind die unsichtbaren Wächter, die hier arbeiten. Sie dienen der Hohen Frau, fürchte sie nicht. Wenn du etwas brauchst, sage es und wenn möglich, werden sie es dir beschaffen. Ich bin bei Einbruch der Dunkelheit wieder da.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, rauschte er zur Tür hinaus und verschwand.
Langsam begann Felice zu essen, doch sie fühlte sich äußerst unwohl in ihrer Haut. Sie konnte die Wächter nicht sehen, aber sie glaubte, ihre Anwesenheit zu spüren. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „Hallo? Ist da jemand?“, rief sie halblaut.
Nichts rührte sich, alles blieb ruhig.
Nervös schob Felice die Schale von sich und stand auf. Augenblicklich verschwand das Essen, ohne dass sich der kleinste Lufthauch geregt hatte. Unruhig lief Felice im Raum auf und ab. Sie fühlte sich von unsichtbaren Augen beobachtet und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. „Ich brauche etwas, um mich abzulenken“, dachte sie fieberhaft „Ein Buch vielleicht, ja ein Buch wäre gut.“ Sie hatte es kaum gedacht, als ein Buch auf dem Tisch erschien. Hastig griff sie danach und verließ dann eilig das Haus.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, draußen umherzuschlendern, in der Sonne zu dösen oder durch das Buch zu blättern. Allerdings langweilte sie sich, da sie sich nicht traute, sich weit vom Haus zu entfernen und das Buch Kräutermärchen für Kinder enthielt. So war sie froh, als die Sonne endlich hinter den Bäumen verschwand. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt saß Felice vor dem Haus und blickte gedankenverloren in den dunkler werdenden Wald. Die Geräusche des Tages verstummten langsam und das Nachtleben begann. Ein paar Fledermäuse flatterten über die Lichtung hinweg. In der Nähe schrie ein Käuzchen.
„Es ist Zeit zum Essen und Beraten“, schreckte eine Stimme sie aus ihren Träumereien. Als sie aufschaute, stand dunkel und groß Tom vor ihr. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand genauso lautlos im Haus, wie er aufgetaucht war. Felice rappelte sich auf und folgte ihm langsam. Es war ihr ein wenig unheimlich, dass dieser Mensch sich so leise und schnell bewegen konnte wie ein Schatten; mal abgesehen von der Tatsache, dass er sie recht gut zu kennen schien und sie fast nichts über ihn wusste.
„Sei gegrüßt“, empfing sie die kühle Stimme in ihrem Kopf, als sie über die Schwelle trat. Tom saß bereits im Schein unzähliger Kerzen am Tisch. Minerva hockte in Eulengestalt auf dem Sims über dem Kamin.
„Iss und trink mein Kind, dann wollen wir Rat halten und sehen, wohin euer Weg euch führt“, fuhr sie fort. Felice wusste nicht, was sie davon halten sollte, von einer völlig fremden Frau mit „mein Kind“ angesprochen zu werden. Unsicher, ob sie etwas erwidern sollte, setzte sie sich an den Tisch.
„Können Sie auch meine Gedanken hören?“, dachte sie in der Hoffnung, keine Antwort zu erhalten.
Die Stimme lachte. „Ja, meine Tochter. Doch lass dir davon das Herz nicht schwer werden. Alle Gedanken um mich her sind mir offenbar. Ich bin die Hüterin der Schwelle.“
„Na super! Privatsphäre adieu“, dachte Felice unbedacht. Ihr Blick streifte Tom, der ihr gegenüber saß. Sie erstarrte, als ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschte. „Können Sie etwa auch meine Gedanken lesen?“, fragte sie pikiert.
„Nur deine Körpersprache. Doch das kann sehr aufschlussreich sein“, erwiderte er.
Errötend senkte Felice den Kopf, bei dem Gedanken daran, was er möglicherweise schon alles über sie erfahren hatte. Wenn sie sich nicht besser zusammennahm und auf ihre Mimik aufpasste, wusste er am Ende noch mehr über sie, als sie selbst.
Minerva lachte wieder. „Tom ist schwer zu täuschen mein Kind“, bemerkte sie.
Felice sah auf und errötete noch stärker, als sie seinen Blick traf. Verlegen schaute sie woanders hin.
„Lass uns essen“, sagte Tom sanft.
Dankbar für den Themenwechsel, griff sie zu. Da sie außer ein bisschen Obst am Morgen nichts gegessen hatte, war sie ziemlich hungrig.
„Essen Sie nichts?“, fragte sie die Eule, die noch immer über dem Kamin saß.
„Es ist Sitte, im Land jenseits der Zeit“, ließ sich die Stimme in Felices Kopf vernehmen „Fremde oder Menschen denen du Respekt erweist, mit „Ihr“ und „Euch“ anzusprechen. Das „Sie“ der Erde klingt fremd und kalt in meinen Ohren. Nein, ich esse nicht - ich bedarf keiner Speise.“
„Aha“, dachte Felice etwas ratlos, doch sie fragte nicht weiter. Sie beendeten die Mahlzeit schweigend, die Speisen verschwanden und Minerva segelte auf sie zu. In der Landung verwandelte sie sich zur Frau. Eine ganze Weile saßen sie da, ohne ein Wort zu sagen und Felice fragte sich bereits, ob sie irgendwelche Spielregeln nicht mitbekommen hatte, als Tom zu sprechen begann.
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