1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 „Vergile!“, donnerte Herr Andarin und sie wurde erneut an die Wand gerissen. Mit einem halben Schritt vorwärts verschwand Herr Andarin vom Eingang und tauchte fast im selben Moment wieder neben Felice auf. Sie war schockiert und völlig verwirrt.
„Bleib, wo du bist!“, befahl er ihr und sie konnte sich wieder normal bewegen. Da ihr nichts Besseres einfiel, gehorchte sie.
Der alte Mann stieß fürchterliche Gurgel- und Zischlaute aus und grüner Nebel begann sich im Raum auszubreiten.
„Kannst se nicht retten, Tom“, zischte er. „Geh zur Seite!“ Der grüne Nebel wurde dichter und legte sich über alle Wände und die Tür. „Könnt nich mehr raus. Alle Wege versperrt!“, höhnte er und lachte krächzend.
„Felice, tue genau, was ich dir sage!“, wies Herr Andarin sie an. Er sah hochkonzentriert aus. Das Gelächter des Männchens verstummte. „Wenn ich „Jetzt“ sage, gehst du zum Schrank, machst ihn auf und drückst deine blutige Hand auf den Spiegel, den du dort findest“, befahl er.
Der alte Mann stieß einen unverständlichen Schrei aus, ließ seine Zunge zwischen den Zähnen hin und her flitzen und hechtete zum Schrank in der Ecke. Bevor er ihn erreichen konnte, war er in eine Kugel aus Licht gehüllt.
„Jetzt!“, rief Herr Andarin und Felice rannte zum Schrank. Sie riss die angelehnte Tür auf und starrte in den alten, angelaufenen Spiegel, der dort stand. Einen Augenblick lang zögerte sie. Herr Andarin sprang auf sie zu, packte ihre Hand und presste sie auf den Spiegel. Sekundenlang starrte Felice auf die Lichtkugel, die sich aufzulösen begann und Vergile wieder frei gab, dann stand sie plötzlich auf der Wiese vor dem Herrenhaus in der prallen Mittagssonne.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Herr Andarin, der neben ihr aufgetaucht war, und sah sie forschend an. Felice schüttelte den Kopf und fasste sich an den Hals. Sie war noch immer stumm, sie zitterte am ganzen Leib und fühlte sich orientierungslos. Offensichtlich war sie nicht einfach vor dem Herrenhaus gelandet. Die Sonne stand im Zenit, obwohl es eigentlich Nacht sein musste, und die Landschaft um sie herum hatte sich vollständig verändert. Das Dorf war verschwunden, der Wald war näher gerückt und die Bäume wirkten größer und älter. Misstrauisch sah Felice Herrn Andarin an und wich vor ihm zurück. Wer war er? Was hatte er mit diesem bösartigen Männchen zu tun? Warum war alles so seltsam verändert?
Herr Andarin sah sie besorgt an. „Ich habe nicht vor, Ihnen Schmerz zuzufügen. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann“, sagte er mit beruhigender Stimme. „Wenn Sie mich lassen, gebe ich Ihnen Ihre Stimme zurück“, fügte er sanft hinzu. Mit langsamen Bewegungen kam er auf sie zu, nahm ihre Hand, die sie sich noch immer krampfhaft an die Kehle presste und strich mit dem Zeigefinger ihren Hals entlang.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Hilfe, Hilfe, Hilfe“, flüsterte Felice, kaum dass sie ihre Stimme zurück hatte.
„Alles wird gut. Ganz ruhig“, murmelte Herr Andarin. Aber sie konnte nicht aufhören zu zittern. Alle Knochen taten ihr weh und der Schnitt in ihrer Hand brannte. Er nahm seinen Umhang ab und legte ihn ihr über die Schultern. „Kommen Sie!“, sagte er leise, berührte sie leicht am Oberarm und führte sie auf den Wald zu.
„Wo sind wir?“, brachte Felice heraus, als sie ihn erreichten.
„Das“, erwiderte Herr Andarin „ist der Forst von Arkarion. Auch der Wald der Schwelle genannt. Das Herrenhaus bildet ein Tor zwischen den Welten.“ Sie folgten einem schmalen Pfad, der sich durch die Bäume schlängelte und sie tiefer in den Wald hineinführte. Das Laub vieler Jahre dämpfte ihre Schritte zu einem leisen Rascheln und das Licht der Mittagssonne drang nur schwer durch das dichte Blattwerk der uralten Bäume. „Als wir den Spiegel berührten kamen wir in das Reich jenseits der Zeit “, erwiderte Herr Andarin mit melodischer Stimme.
„Warum sind wir hier?“, fragt Felice immer noch etwas weinerlich. Sie verstand nicht, was das Gerede sollte. Reich jenseits der Zeit? Das hörte sich an wie ein Land aus einem Fantasyfilm.
Herr Andarin wandte sich ihr zu. „Es war der einzige Weg, den Vergile uns nicht versperren konnte“, entgegnete er. „Und hier können wir herausfinden, was er von Ihnen wollte.“
„Warum kommt er nicht einfach hinterher?“, wollte sie wissen. „Er kann nicht. Ihm ist der Zutritt versperrt“, erwiderte er knapp.
Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Der Pfad verlief ebenmäßig und, obwohl er sehr schmal war, machte er den Eindruck, als ob er regelmäßig gepflegt würde. Felice humpelte, tief in Gedanken, versunken hinter Herr Andarin her. Ihre Glieder schmerzten noch von der groben Behandlung und die Schmerzen erinnerten sie an das Geschehene.
Szenen aus dem Herrenhaus spielten sich immer wieder vor ihrem inneren Auge ab: das gackernde Männchen, das den Kreis zog und seltsame Symbole malte; das silberne Messer; das flackernde Fackellicht; die stechenden Augen des Alten; Herr Andarin der plötzlich in der Tür stand...
Herr Andarin zog eine kleine Flöte aus seinem Gürtel und begann darauf zu spielen. Eine getragene Melodie voll vergangener Größe und Sehnsucht erklang und webte sich in Felices Erinnerung hinein. Je länger er spielte, desto leichter wurde die Melodie und desto leichter wurden auch ihre Gedanken.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, erkundigte sie sich, nachdem das Lied verklungen war. Herr Andarin neigte zustimmend den Kopf. „Wer, ich meine, wer und was sind Sie?“, fragte sie. Er antwortete nicht gleich, sondern schritt schweigend den Pfad entlang und Felice vermutete schon, dass er die Frage nicht gehört hatte, oder dass er sie nicht beantworten wollte, als er schließlich sprach:
„Ich bin Tom Andarin, Meister Tom der Wanderer. Ich bin der, der diesseits und jenseits der Pforte lebt. Lerne mich kennen und du weißt, wer ich für dich bin.“ Vor einem schlanken Bäumchen blieb er stehen und strich mit beiden Händen sachte darüber. „Du hast Schmerzen.“ sagte er sanft. „Gib mir deine Hand.“ Zögernd reicht Felice sie ihm. Sie war verwirrt und sehr aufschlussreich waren seine Worte für sie nicht gewesen. Mit der gleichen Vorsicht, mit der er vorher die Pflanze berührt hatte, nahm er ihre Hand. Ein Kribbeln strömte von den Füßen aufwärts durch ihren Körper und ihre Schmerzen verschwanden.
„Du könntest das, was ich tue, vielleicht als Magie bezeichnen“, fuhr er fort. „ oder einfach als lebendige Mathematik.“ Felice hatte keine Ahnung was das eine mit dem anderen zu tun hatte. Für sie sah es eindeutig mehr nach Magie aus, was, wie ihr Verstand ihr mitteilte, unmöglich war. Vielleicht sollte sein Gerede auch bedeuten, dass er irgendeine Art von Wissenschaftler war, der eine Technik oder so etwas gefunden hatte, um gewisse Naturgesetze außer Kraft zu setzten. Was es auch war, im Moment war sie zu müde, um über derart komplizierte Dinge nachzudenken.
„Und wohin gehen wir?“, fragte sie in der Hoffnung auf eine normale Antwort.
„Es gibt in der Nähe eine Hütte, die ich bis zum Abend erreichen möchte“, erwiderte er.
„Bis zum Abend?“, fragte Felice entsetzt. „Ich muss zurück. Bella muss versorgt werden und ich habe nicht mal abgeschlossen“, fügte sie hinzu.
„Sie können nicht zurück. Vergile würde sich freuen, wenn Sie ihm ohne Zögern in die Arme laufen“, entgegnete Herr Andarin mit scharfem Unterton. „Um den Hund brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
Unschlüssig blieb Felice stehen. Sie hatte wenig Lust, blauäugig hinter ihm her zu trotten. Er mochte sie vor Vergile gerettet und ihre Schmerzen gelindert haben, aber das bedeutete nicht, dass er nicht seine eigenen Absichten verfolgte. Woher wusste sie, dass die ganze Sache mit Vergile nicht von vornherein von ihm geplant und alles ein abgekartetes Spiel war? Woher hatte er überhaupt gewusst, dass sie Hilfe brauchte?
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