1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Mit einem Mal veränderte sich etwas in der Luft. Die Amsel hörte auf zu singen und Bella hob den Kopf und begann leise zu knurren. Eine eigenartige Erregung ergriff Besitz von Felice. Sie hatte das Gefühl vor Energie zu sprühen und jetzt auf der Stelle irgendetwas tun zu müssen. Sie sprang zum Fenster und schaute hinaus. Ein kleiner, alter Mann, in einen Kapuzenumhang gehüllt, wackelte langsam die Straße entlang.
Vor ihrem Haus blieb er einen Augenblick stehen, schaute stumm zu ihr hinauf und schlug dann den Weg über die Felder zum alten Herrenhaus ein. Fast schien es, als hätte er sie aufgefordert, ihm zu folgen. Bella knurrte lauter, doch Felice bemerkte es kaum. Eine ungeheure Neugierde hatte sie gepackt und mit einem Mal konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als dem Mann heimlich zum alten Herrenhaus hinterherzuschleichen.
Leichtfüßig lief sie die Treppe hinunter. Bella stellte sich ihr winselnd, mit gesträubten Haaren in den Weg und schnappte nach ihr, als sie sich vorbeidrängelte. Aber Felice achtete nicht auf sie, sondern schob sie einfach zur Seite und schloss schnell die Haustüre hinter sich.
Der Mann hatte das Herrenhaus schon fast erreicht, als sie den Feldweg betrat. Vor sich hin pfeifend hüpfte sie ihm durch die verblassende Dämmerung hinterher. Ihre Füße liefen fast wie von selbst und ohne zu zögern zwängte sie sich an dem alten Ginsterstrauch, der den Eingang versperrte, vorbei. Sie achtete nicht darauf, dass sich der Saum ihrer Bluse in den dornigen Zweigen verfing und riss, als sie weitereilte.
In dem fast dunklen, staubigen Flur war niemand zu sehen. Doch Fußspuren führten die wacklige Treppe hinauf. Unwillkürlich musste Felice kichern. Sie fühlte sich leicht wie ein kleines Mädchen, das gerade eine Übeltat begeht. Die Stufen knarrten, als sie nach oben stieg. Übermütig tanzte sie den finsteren Flur entlang, bis zu einer Tür ganz am Ende, die einen Spalt breit offen stand.
Ein heller Sonnenstrahl fiel vor sie auf den Boden. Verwundert öffnete sie die Tür und trat in den Raum, der von Sonnenlicht durchflutet war. Staub tanzte in glitzernden Spiralen durch die Luft und wirkte wie Feenzauber. Mit drei Sprüngen war Felice am Fenster und sah hinaus. Draußen ging die Dämmerung allmählich zur Nacht über.
Hinter ihr klickte die Tür leise ins Schloss und mit einem Schlag fiel die ganze sonderbare Leichtigkeit von ihr ab. Das Sonnenlicht verschwand und der Raum wurde nur noch spärlich von flackerndem Fackelschein erhellt. Auf einmal war Felice kalt und Furcht kroch ihr den Rücken hinauf. Sie drehte sich um. Vor ihr im Fackelschein stand der alte Mann. Mit stechenden Augen sah er sie an.
„Hat dir der Weg gefallen, he?“, krächzte er und lachte gackernd.
Felice lief ein Schauer über den Rücken. Sie verstand nicht, was in sie gefahren war, sich wie ein kleines Mädchen aufzuführen und einem Fremden hinterher zu hüpfen. Bedröpelt stand sie da, mit der am Saum zerrissenen Bluse.
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören“, stotterte Felice.
„Ach, ach störst gar nich, nich war?“, schnurrte der Alte und seine Zunge schoss zwischen seinen Zähnen hindurch. Sie zuckte zurück. Dieser Mensch war ihr unheimlich. „Hab schon alles für dich vorbereitet“, krächzte er und ein hungriger Ausdruck trat in seine Augen.
Felice verstand nicht, was er meinte und sie war sich nicht sicher, ob sie es verstehen wollte. „Ich gehe dann mal wieder“, sagte sie und versuchte lässig zu klingen.
„Oh nein, wirst du nicht“, erwiderte das Männchen. Allmählich war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob er ein Mensch war. „Werden sehen, ob der große Tom diesmal kommt, um dich zu retten.“ Er kicherte krächzend. „Ja, ja, schöne Überraschung.“
Aus seinem Geschwafel wurde Felice nicht schlau. Das einzige, was sie verstand, war, dass sie sich irgendwie aus dieser Situation befreien musste. Der Alte wirkte auf sie nicht besonders stark. Aber aus irgendeinem Grund zweifelte sie daran, dass sie es schaffen konnte, nach Hause zu kommen, wenn er ihr nicht erlaubte zu gehen. Trotzdem versuchte sie einen Schritt an ihm vorbei zu machen und als es gelang, stürzte sie zur Tür. Doch noch bevor sie die Klinke fassen konnte, wurde sie zurückgerissen und an die Wand gedrückt. Das Männchen stand immer noch an derselben Stelle und lachte krächzend. Obwohl niemand sie festhielt, konnte Felice sich nicht vom Fleck bewegen.
„Nich weglaufen. Hat keinen Zweck“, schnarrte er und seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
Panik machte sich in Felice breit. „Oh Gott, er ist verrückt“, dachte sie und versuchte verzweifelt sich zu befreien. „Was wollen Sie von mir?“, presste sie hervor.
Der Alte trat näher an sie heran und starrte sie aus seinen kleinen Augen an. „Sollst was für mich finden“, krächzte er.
„Was finden? Und dann lassen Sie mich gehen?“, fragte sie fast flehentlich. Er legte den Kopf schief und gluckste: „Geht dann vielleicht nicht mehr, nee, mal sehen, mal sehen.“
Felice stemmte sich mit aller Kraft gegen die Wand und stolperte plötzlich nach vorne. Doch noch bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte, wurde sie zurückgerissen und wieder gegen die Wand gepresst.
„Hoppla, is stark die Kleine. Das is gut, das is gut“, brummte der Alte. Sie stöhnte und dachte an die blauen Flecken, die sie am Rücken bekommen würde. Er achtete nicht weiter auf Felice, die nun völlig bewegungslos war, sondern kramte in einer Tasche seines Umhangs. Mit einem Stück Kreide in der Hand begann er, leise vor sich hin murmelnd, komplizierte Formen auf dem Boden zu laufen und machte hin und wieder einen Punkt.
„Lassen Sie mich endlich gehen!“, schrie Felice ihn an. Aber ohne sie zu beachten machte er weiter seine Punkte.
Sie schimpfte und flehte, doch er schien sie gar nicht zu hören. Schließlich hatte er einen Kreis mit zwölf Punkten um sich herum gemalt. Als er fertig war, machte er eine flüchtige Bewegung mit der Hand in ihre Richtung und Felice verstummte jäh. „Sei nich ungeduldig“, raunzte er und malte nun verschlungene Symbole in den Kreis.
Sosehr sich Felice auch anstrengte, konnte sie doch keinen Laut mehr hervorbringen. Angst, so kalt wie Eis, machte sich in ihr breit. Wer oder was war dieses Männchen? Warum hatte er solche Macht über sie? Tränen traten ihr in die Augen. Sie wollte hier weg, aber sie konnte nicht sehen, wie sie das anstellen sollte. Es gab keinen Ausweg. Keiner würde sie die nächsten zwei Tage vermissen. Niemand würde nach ihr suchen. Lautlos rollten Tränen über ihre Wangen. Mit aller Kraft kämpfte Felice gegen die unsichtbaren Fesseln, doch sie gaben nicht nach. „Hilfe“, dachte sie. „Hilfe! Hilfe!“, schrie sie innerlich.
Inzwischen war es draußen ganz dunkel geworden. Die Fackel flackerte düster und Unheil verkündend.
„So. Fertig“, krächzte der Alte plötzlich. Er warf einen Blick aus dem Fenster, dann richtete er seine Augen auf Felice und sagte fast zärtlich: „Komm her, Kleine.“ Sie wurde nun nicht mehr an der Wand festgehalten, aber eine unwiderstehliche Macht zog sie zu dem alten Mann hin.
„Nein, nein, nein“, schrie sie lautlos und versuchte sich gegen den Sog zu stemmen. Doch sie musste Schritt für Schritt auf den unheimlichen Kreis zu gehen.
Ohne Vorwarnung ließ der Sog plötzlich nach und Felice stürzte rückwärts zu Boden. Die Tür schlug auf und Herr Andarin trat in den Raum. Er trug einen schwarzen Umhang. Im Fackellicht sah er groß und bedrohlich aus. Mit einem Schrei sprang der alte Mann zu Felice, packte sie mit eisernem Griff und versuchte sie in den Kreis zu zerren. Sie wehrte sich, doch sie war schon geschwächt und der Alte besaß erstaunlich viel Kraft in seinen dürren Gliedern. Blitzschnell zog er ein kleines silbernes Messer aus seinem Umhang und schnitt Felice damit in die Hand.
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