Zur Diagnose hatte ich nun auch noch die Kündigung während meiner Probezeit in einer Klinik bekommen; künftig war ich arbeitslos. Mein geschiedener Mann, Richard, schaffte keine gute finanzielle Basis für uns, somit gingen die Laufereien zu diversen Ämtern los. Ich konnte kaum gehen, leider nicht gerade der Idealfall, wenn man im Dachgeschoss wohnte.
»Mama, soll ich dir etwas helfen?« Oft stand meine kleine Tochter vor mir und hat mich danach gefragt.
»Nein, mein Schatz. Geh ruhig spielen. Ich schaffe das.« Traurig schaute ich Conny hinterher, die ein sensibles Kind war und genau spürte, wann ich keine Kraft mehr für den Haushalt hatte.
»Mama, kann Papa mir etwas einkaufen?« Ich hatte die Nummer meiner Eltern gewählt und sie um Hilfe gebeten. Auch etwas, das ich erst lernen musste.
»Klar Christin, ich schreibe es mir auf und dann kann dein Vater die Sachen gleich besorgen. Ich war zwar heute Morgen im Supermarkt, doch habe ich die Tomaten und die Butter vergessen.«
Nachdem ich telefoniert hatte, legte ich mich auf die Couch.
Mit den Jahren haben sich meine Kinder notgedrungen in die Situation eingefunden, dass manches in unserer kleinen Familie anders war, als bei ihren Freunden. Oft bekam ich Infusionen, die ich anfangs der Erkrankung meist stationär in der Klinik erhalten habe.
In den ersten zwei Jahren nach meiner Diagnose blickte ich öfters zurück. Kein leichtes Leben hatte ich seit der Heirat. Bei meiner kleinen Conny haben die Ärzte bei der Geburt ein schweres Hüftleiden diagnostiziert. Später waren Asthmaanfälle dazu gekommen; viele Klinikaufenthalte folgten. Dann hatten wir den Hausbau in unserer alten Heimat in Angriff genommen und zogen von Bayern wieder zurück nach Lahnfeld. Bei Peter wurde mit neun Monaten ebenfalls eine Hüftdysplasie festgestellt und somit kämpfte ich an zwei Fronten. Richard hielt sich aus allem heraus und forcierte nur seine Karriere. Wir hatten ein schönes Haus mit Garten in einem Vorort. Ein Holzgartenzaun begrenzte unser Grundstück, und liebevoll hatte ich einen Bauerngarten angelegt. Es duftete, je nach Jahreszeit, nach Rosen, Lavendel, Thymian und Jasmin. Er war mein ganzer Stolz und ein Ausgleich zu den anstrengenden Nächte und der Pflege der Kinder. Mittendrin auf dem Rasen haben eine Holzschaukel und ein Sandkasten gestanden, was für meine zwei Kleinen ein Paradies darstellte. Eine wundervolle Idylle, die plötzlich durch die Erkrankung meines damaligen Mannes zerrissen wurde.
Richard erkrankte sehr schwer. Eine Welt stürzte für mich ein.
»Ich muss Ihren Mann sofort auf die Intensivstation verlegen. Auf dem MRT-Bild erkennt man deutlich einen Gehirntumor.« Der junge Assistenzarzt hatte mir die niederschmetternde Diagnose auf dem Krankenhausflur der Notaufnahme übermittelt. Er starrte an mir vorbei.
»Hätte ich Sie nicht zum MRT aufgefordert, nachdem Sie mir die Blutwerte zeigten und der LDL-Wert massiv erhöht ist, wären Sie nie auf die Idee einer MRT-Aufnahme gekommen. Bitte veranlassen Sie den sofortigen Transport nach Karlsruhe oder Mannheim. Hier bleibt mein Mann nicht.« Aufgebracht fuchtelte ich mit den Händen vor seinem Gesicht herum.
»Wie Sie möchten. Es tut mir leid. Ich werde sofort telefonieren, wohin wir Ihren Mann verlegen können.« Mit eingezogenen Schultern wendete sich der junge Arzt ab und ließ die Tür während seines Telefonats offen.
In Windeseile rief ich meine Eltern an, die bei uns zuhause auf die Kinder aufpassten. Mit meinem eigenen Auto und meinem Vater fuhr ich dem Krankenwagen hinterher, der auf dem Weg mit Richard in die Kopfklinik nach Mannheim war.
Am nächsten Tag operierten die Ärzte sofort den Gehirntumor meines Mannes. Anschließend musste er für Wochen in eine Rehabilitationsklinik, aus der er frühzeitig entlassen wurde, um erneut operiert zu werden. Ich besuchte ihn regelmäßig, sprach mit Ärzten und hielt Kontakt mit unseren Freunden, die ebenso in die Reha-Klinik fuhren, um ihn zu besuchen. In dieser Zeit bin ich eindeutig über meine Grenzen gegangen, überlegte ich in diesem Moment meines Rückblicks. Durch enormen Stress und seelische Belastungen kann eine Krankheit, wie die Multiple Sklerose, ausbrechen. Diese Erkenntnis half mir jetzt aber nicht weiter. Denn es kam vor vier Jahren zum Supergau.
Ohne Ankündigung zog Richard aus unserem Haus zu seinen Eltern und verschwand aus unserem Leben.
Ein Familienkrieg zwischen uns und den Eltern meines Vaters entfachte, Richard krank und vom Charakter devot, fügte sich ihren Wünschen. Conny erzählte mir kurz vor ihrer Abreise: Es war kaum auszuhalten und ich flüchtete in meine eigene Welt. Meine ach so netten Großeltern, die ich gerne nur mit Vornamen anspreche, machten dir, Mama und somit auch uns, das Leben zur Hölle. Unser schönes Haus wurde verkauft und wir zogen in diese verhasste Dachwohnung, beengt und ohne Garten. Zum Glück hast du nicht mehr im Hallenbad als Putzhilfe gearbeitet, sondern bekamst zeitgleich eine Halbtagsstelle in deinem Beruf als MTA. Blöd waren nur die Nacht- und Wochenenddienste. Oma und Opa versorgten uns ja, wenn du arbeiten musstest, und wir übernachteten viele Abende bei ihnen. Das fand ich echt toll. Sie verwöhnten uns und waren echt ein Halt in dieser schweren Zeit …
Das Familienleben mit Richard war zerbrochen und nichts war mehr wie vorher.
°Conny°
Der Anflug auf die Ostküste der USA und New York war unbeschreiblich. Auf dieser Seite der Erde war es erst 12:38 Uhr, aber ich gähnte mit den restlichen Passagieren um die Wette. In Frankfurt um 7:35 Uhr losgeflogen, landeten wir um 9:40 Uhr in London. Weiter ging es nach zweistündigem Aufenthalt, dann über den Teich und schon wieder war Mittagsessenszeit. Ich hatte tatsächlich fast den ganzen Flug geschlafen, außer die Momente der Mahlzeiten. Trotzdem fühlte ich mich wie gerädert. Aufgeregt bangte ich um mein Gepäck und das, was ich von meinem Fenster aus sah, entschädigte mich für jede Müdigkeit. Ich hielt den Atem an. Dort unten erblickte ich zum ersten Mal die Freiheitsstatue und die Skyline von Manhattan. »Wow, Constanze, der Anfang ist gemacht. Amerika, ich komme!« sprach ich zu mir selbst.
Der Kapitän machte eine Ansage: »Verehrte Gäste, in circa zehn Minuten landen wir auf dem John F. Kennedy International Airport. Es ist jetzt 12:41 Uhr, bei angenehmen 19°C. Die gesamte Crew bedankt sich bei ihren Passagieren und wir wünschen Ihnen einen unvergesslichen Aufenthalt.«
»Bitte sind sie so nett und legen sie ihre Handtasche unter den Sitz.«
Die Stewardess meinte mich und riss mich aus meinen Tagträumen. Sie lächelte und warte bis ich Gesagtes ausgeführt hatte.
Wir landeten und plötzlich kam ich mir doch recht verloren vor. Schon beim Anblick auf New York grummelte mein Bauch. Ich bekam weiche Beine, als ich die unbeschreiblich großen Hallen und Gänge sah. Allen Kulturen dieser Welt begegnete ich, während ich zur Gepäckausgabe lief. Neben mir wurde französisch gesprochen, dann huschte ein spanisch sprechendes Pärchen an mir vorbei, die Sprachen wechselten mannigfaltig von russisch zu italienisch. Zurzeit verstand ich kaum Deutsch, so verwirrt und verängstigt war ich plötzlich.
»Excuse me!« Es hatte mich jemand angerempelt und schon war dieser Unbekannte in der Menge verschwunden.
Constanze beruhige dich, geh zur Passkontrolle, dann dein Gepäck holen und bring den Zoll hinter dich. Danach ab ins Hotel. Du brauchst dringend eine Dusche und eine Mütze Schlaf.
Mit meinen zwei Koffern stand ich zwei Stunden später vor der Ankunftshalle, nachdem ich die Immigration durchlaufen hatte, um überhaupt in das Land einreisen zu dürfen. Ich kramte meine Notizen aus der Tasche. Zu Hause am PC hatte ich mir die Bus- und Zugverbindungen herausgeschrieben, was jetzt eine große Hilfe war.
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