Jetzt standen da für sie zwei der alten, hässlichen, aber stabilen und stapelbaren Kisten bereit, die verwendet wurden, wenn die Aktenlage zu mächtig wurde. Die Post hatte die gleichen grauen Kisten. Oben auf jeder Box lag die Inhaltsliste. Sie stellte die Boxen auf den Boden, setzte sich an ihren Schreibtisch und ließ ihren Ärger über die unerwartete Aktenfülle erstmal abklingen. Sie schaute auf ihr persönliches Arrangement von kleinen Erinnerungen an außerordentlich nette Erlebnisse. Da war eine Eintrittskarte der Tate Gallery neben einer des Grünen Gewölbes in Dresden. Oder eine Karte für eine Kahnfahrt im Spreewald neben einer Konzertkarte der Wagner-Festspiele in Bayreuth und einer Eintrittskarte für das Museu de l`Erotica, Barcelona. Sie ärgerte sich immer ein wenig, wenn sie diese Karte sah, weil sie die Eintrittskarte für das Museum of Sex in New York versehentlich weggeworfen hatte. Links an der Wand hing ein Bild eines modernen Künstlers, das sie eben in diesem Museumsshop in New York gekauft hatte. Alle Kollegen, die ab und zu in ihr Zimmer kamen, wollten wissen, was dort dargestellt sei. Da half nur der Hinweis, dass abstrakte Malerei sich einem selbst erschließen müsse. Miss Moneypenny, die gerne auf Vernissagen ging und einen Freund hatte, der in Leipzig eine Galerie für zeitgenössische Malerei und Skulpturen unterhielt, meinte, eine erotische Szene zu erkennen. Sie wollte unbedingt den Namen des Künstlers erfahren. Helen musste sie enttäuschen. Ihr habe das Bild einfach nur gefallen, sagte sie. Das war ihre Standardversion. Sie selber wusste allerdings genau, was dargestellt war. Spannend war, alle rätseln zu lassen. Daneben hingen im Rahmen unter Glas diverse Fotos ihrer Reiterreisen nach Frankreich und Spanien. Auf dem Fenstersims hatte sie ihre besondere Uhr platziert. Ein schweres, silbernes Gestell englischer Herkunft, Art déco, mit kugelförmigem Perpendikel in der Mitte, das aus einem von vorn nach hinten geschlitzten Bogen heraus unter dem relativ kleinen, runden Zifferblatt zum Betrachter hin pendelte, was ungewöhnlich war. Insgesamt sah das Gestell wie der Abdruck der Innenkonturen weiblicher Oberschenkel aus, des Thigh Gap, durch dessen Schlitz das Pendel unablässig seine Bahn zog. Das Zifferblatt fand seinen Platz just an der Stelle, wo sich die beiden Lippen dieses bogenförmigen Schlitzes trafen. Die Uhr zog viel Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich. Auch hierüber wurde viel gerätselt. Moneypenny hatte sofort erkannt was sie da sah: „Das Pendel schwingt direkt aus dem Schlitz zwischen ihren Schenkeln. Die Uhr sitzt auf der Perle“. Was gab es da noch weiter zu interpretieren?
Auf der rechten Seite der hellgrauen Schreibtischplatte war der Platz für ihren privaten Laptop, mit dem sie für Recherchen ins Internet ging, die nicht unbedingt über den Dienstrechner nachvollzogen werden sollten. Da waren auch alle Recherchen gespeichert, die sie zu diversen Fällen privat unternahm, wenn sie der Meinung war, einiges vorläufig besser für sich zu behalten. Auch die jüngsten Dokumentationen hatten hier ihren Platz. Auch ihre Korrespondenz mit Raul lief über diesen Laptop. Raul hatte ihr ein Sicherheitssystem installiert, das es anderen unmöglich machte, über das WIFI-System des Institutes in ihren Rechner einzudringen.
Dieser Rechner, den sie immer mit sich führte und abends immer mit nach Hause nahm, stand jetzt schon aufgeklappt auf ihrem Schreibtisch.
Helen saß auf ihrem Schreibtischstuhl mit den gepolsterten Armlehnen und dem vollständig flach gepolsterten Sitz. Der Sitz war extrabreit, ein originales, antikes Bauhausmodell, das sie anlässlich der Leipziger Buchmesse bei einem Trödler in Dessau gefunden hatte. Sie hatte vergessen, wer der Erfinder war. Es war ihr privater Stuhl. Sie war der Meinung, dass bei dieser intensiven Tätigkeit einiges Persönliches das Recht hatte, in ihrer Umgebung zu sein. Dafür hatte sie, außer den Bildern der Reiturlaube, keine weitere private Bildergalerie. Es gab auch keinen Grund, etwas aufzustellen. Ihre einzige Verwandte, die noch lebte, ihre pflegebedürftige Tante, lag in einem Pflegeheim ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Die wenigen Bilder, die sie von ihr hatte, zeigten sie als Kleinkind auf dem Schoß ihres Großvaters und in jungen Jahren mit Hund. Das war nicht mehr passend. Die Tante wurde mehrfach pro Woche von ihr besucht. Auch das war im Prinzip unnötig, da sie sich nie daran erinnern konnte und immer nur sagte, dass sie, Helen, ja schon ewig nicht mehr da gewesen sei, und ob sie nicht bald studieren wolle. Aber, wie es eben war, im Lager des Pflegeheimes stand auch die Seemannskiste ihres Urgroßvaters, der als Kapitän eines Kanonenbootes der Deutschen Kaiserlichen Marine in Lüderitz und Swakopmund stationiert gewesen war und auch in Tanga in Ostafrika gelegen hatte. Da, wo die Usambaraveilchen herkamen. Ihre Tante hatte die Kiste immer wie ein heiliges Andenken an ihren Großvater gehütet. Sie hatte die Kiste von ihrer Mutter übernommen. Helen wusste davon, hatte aber nie Zeit gefunden, nach dem Schatz in dieser Vergangenheit zu suchen. Ihre Tante hatte sie nie dazu aktiviert. Sie hatte Helen immer nur am langen Zügel geführt. Sie wusste, irgendwann würde sich Helen auch dieser Vergangenheit nähern. Sie hatte immer gesagt, dass ihr Urgroßvater ein häufiger Gast der Woermanns gewesen sei. Er sei in Süd-West- und Deutsch-Ostafrika viel auf der Jagd gewesen. Er habe mit bekannten Großwildjägern zusammen gejagt, zum Beispiel mit Selous. Sie müsste sich mal darum kümmern.
Helen schlug die Beine übereinander und schickte Raul eine E-Mail. Sie wollte wissen, ob er ansprechbar war, und mit ihm ein Date vereinbaren, falls Tussi nicht da war. Tussi war häufig auf Messen, und dann hatte Raul sturmfreie Bude. Sie brauchte jetzt wenigstens die Aussicht auf etwas körperliches Vergnügen. Sie nahm sich die Kisten samt Listen und Inhalt zur üblichen Prüfung auf Vollständigkeit vor. Ihr wurde langsam warm in ihrem Reitdress. Am liebsten hätte sie sich die hohen Reitstiefel ausgezogen, aber das hätte nicht besonders gut ausgesehen. Außerdem hätte sie dann strumpfsockig rumlaufen müssen. Also, das ging gar nicht. Wenn schon Dress, dann auch richtig.
Raul antwortete: „Ich habe Zeit, kommst du gleich, du hast doch heute frei?“
Das war für Helen dann doch etwas zu flott. Sie hatte jetzt keine Zeit und mailte zurück, dass sie jetzt eben mit einem neuen Thema überrannt worden sei, aber noch heute auf ihn zukommen werde. Helen konnte jederzeit auf Rauls IT-Kenntnisse zurückgreifen. Sie kannten sich seit dem Studium. Auch Raul hatte mit Psychologie begonnen. Jetzt war er zum Chefredakteur einer renommierten Computerzeitschrift avanciert. Es gab kaum ein Thema, für das er keine Lösung parat hatte oder sie nach einiger Recherche fand. Da Helen immer mit neuen Fragestellungen auf ihn zukam, gab es auch für ihn interessante Impulse. Er machte die Arbeit für Helen gern. Gemeinsame erotische Abenteuer waren für ihn mehr als nur eine gewisse Motivation. Für Zeit mit Helen war er immer bereit.
Helen verschaffte sich einen Überblick. Eine Kiste war randvoll mit Akten, die zweite war quasi leer. Helen dachte: Mit einer leeren Kiste die Arbeit zu beginnen, hat doch was. Sie wurde neugierig.
In dieser zweiten, ebenso großen, jedoch leeren grauen Plastikkiste lag in einer Plastikhülle ein Zettel: „20.05.11, Video-Material, entnommen durch Borhagen.“ Eine exakte Beschreibung des entnommenen Inhaltes hatte Borhagen auf die Rückseite geschrieben. Es waren:
13 Videokassetten, 21 CD-ROM und ein USB-Stick 2.0. Die Titel der Videokassetten waren angegeben, Pornos mit professionell klingenden, deutschen Titeln: „Einreiten der Jungfrauen“, „Tittenfest“, „Der Pfahl des Meisters“, „Gepfählt“, „Anale Pfählung der Jungfrauen“, „Jungfrauen im Folterkeller der Mönche“, „Tittenbondage“, „Auf der Streckbank des Kerkermeisters“, „Gangbang im Bondageclub“, und so weiter. Ein einziger Titel überraschte sie: „Die Häutung“, mit dem handschriftlichen Untertitel von Borhagen, „wohl Originalaufnahmen, wohl authentisch.“ Dahinter hatte er ein Ausrufezeichen gesetzt. Die diversen CD-ROMs waren nicht weiter beschrieben, es waren nur 21 Nummern angegeben. Der USB-Stick von der Firma Alfabeta hatte 16 GB Speicherplatz. Das war eine Unmenge von Bildmaterial, das zu sichten war.
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