„Bis jetzt hat es noch niemand geschafft, so lange hier ruhig zu sitzen“, meinte sie plötzlich.
„Danke. Denke ich“, erwiderte ich lächelnd.
Eine Weile schwiegen wir, bis sie wieder das Wort ergriff. Sie war anscheinend einsam und sehnte sich nach Aufmerksamkeit. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass es so war. „Das ist wirklich beeindruckend. Vor allem für dein Alter.“
„Du bist doch auch nicht viel älter als ich, oder?“
„Nein, ich bin sieben. Aber ich bin nicht so wie die anderen Siebenjährigen.“
„Ich verstehe.“
„Nein, das denke ich nicht.“
„Doch, ich bin auch nicht wirklich typisch für einen normalen Siebenjährigen.“
Wieder schwieg das unbekannte Mädchen für eine Weile. Anscheinend dachte sie über meine Worte nach. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie hatte hellblonde Haare und blaue Augen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen.
„Ja, du hast recht. Ich denke, wir könnten Freunde werden.“
Das kam plötzlich. Ich kannte dieses Mädchen erst seit einigen Minuten, da war so eine Aussage vielleicht ein wenig voreilig. Aber auch ich hatte das Gefühl, ihr vertrauen zu können. Sie war mir sehr sympathisch. Sie war ein wenig wie ich selbst.
„Ja, vielleicht“, nickte ich also lächelnd.
„Wieso bist du hier?“, wollte sie wissen. Mir fiel auf, dass ich nicht einmal ihren Namen kannte, aber ich wollte auch nicht nachfragen.
„Was meinst du? In New Orleans oder im Park?“
„Das Zweite.“
„Na ja, mir war langweilig und ich wollte die Stadt erkunden. Als ich dann hier war, wollte ich einfach nicht mehr gehen. Und du?“
„Bei mir zu Hause sind alle gerade ziemlich im Stress. Meine Eltern streiten sich andauernd und ich habe das Gefühl, erdrückt zu werden. Hier kann ich endlich abschalten“, vertraute sie mir bereitwillig an.
„Worum geht’s denn?“ Ich wollte nicht so neugierig sein, doch ich konnte mir diese Frage nicht verkneifen.
„Ist kompliziert. Ich glaube ich sollte gehen, sonst wird Dad wieder ganz wahnsinnig vor Sorge.“
„Ja, meine Mom fragt sich bestimmt auch schon, wo ich bleibe.“
Sie stand auf und wollte gehen, aber ich fragte zögerlich: „Vielleicht können wir uns ja noch mal treffen?“
Lächelnd sah sie mich an. „Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen“, stellte sie fest.
„Phelipe“, antwortete ich, ohne zu zögern.
„Okay, Phelipe. Dann treffen wir uns wohl morgen wieder hier. Gleiche Uhrzeit.“
Wieder wollte sie gehen, doch ich rief ihr hinterher: „Und wie heißt du?“
Sie war schon einige Meter weiter weg, doch sie drehte sich noch ein letztes Mal um, bevor sie weglief, und meinte grinsend: „Mayla. Mein Name ist Mayla.“
Kurz danach ging auch ich nach Hause, mit den Gedanken immer noch bei dem seltsamen Mädchen. Ja, seltsam war sie wirklich. Aber auf eine positive Art und Weise. Ich wusste, dass es unklug war, einer Fremden zu vertrauen, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dass es bei ihr anders war. Sie kam mir so vertraut vor. Keine Ahnung, wieso. Selbstverständlich würde ich ihr nicht sofort alles über mich und meine Welt erzählen, aber sehr abwegig erschien mir dieser Gedanke auch nicht. Ich mochte sie.
Dieser Junge aus dem Park faszinierte mich. Er war tatsächlich anders als die anderen Jungen in seinem Alter. Er wirkte erwachsener. Er war ein klein wenig wie ich. Auch wenn er vermutlich kein Teil meiner Welt war und es unvorsichtig war, ihn in mein Leben zu lassen, hatte ich mich noch mal mit ihm verabredet. Aber wieso? Da wurde es mir klar: Ich mochte ihn.
„Mayla Johnson, wo zur Hölle warst du?“, riss mich die wütende Stimme meines Vaters aus meinen Gedanken.
„Im Park“, antwortete ich, ohne ihn anzusehen. Ich hasste es, wenn ich zu ihm aufsehen musste und jetzt stand er auch noch auf der Treppe. Und er war eindeutig wütend.
„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“, brüllte er. Wenn er in dieser Stimmung war, sollte man sich wirklich nicht mit ihm anlegen. Natürlich würde er mir nie etwas antun und ich könnte mich auch bestens wehren, aber ich wollte ihn nicht noch wütender machen, also sah ich ihm direkt in die Augen. Die gleichen blauen Augen wie meine.
„Also, willst du mir jetzt bitte sagen, was du da wolltest?“, verlangte er zu wissen.
„Ich wollte mich entspannen. Hier ist es doch immer so stressig“, sagte ich leise.
„Prinzessin, ich kann dich ja verstehen, aber es ist einfach zu gefährlich. Und jetzt ist wahrscheinlich auch noch Terese da draußen und wir haben keine Ahnung, wo sie ist“, meinte er jetzt schon ruhiger. Dann fügte er jedoch bestimmt hinzu: „Du wirst nicht mehr alleine nach draußen gehen.“
„Was? Nein!“, rief ich sofort empört.
„Doch“, antwortete mein Vater jedoch nur stur.
„Du kannst mich doch nicht einfach hier einsperren!“
„Natürlich kann ich das! Ich bin dein Vater!“
„Nein. Nein, das bist du nicht. Du bist ein Monster!“, schrie ich.
Wütend stürmte ich nach oben, um nicht mehr seinen verletzten Gesichtsausdruck sehen zu müssen. Ich wusste, meine letzten Worte waren zu viel gewesen, aber ich konnte sie jetzt nicht mehr zurücknehmen. Dabei war ich doch gar nicht wütend auf ihn, sondern auf mich. Ich war wütend, weil ich Phelipe nicht wiedersehen konnte.
Nachdem ich diese furchtbaren Worte zu meinem Vater gesagt hatte, fühlte ich mich ebenso furchtbar. Mein Dad wurde schon früher oft als Monster bezeichnet, von vielen Personen, die ihm wichtig waren. Ich wusste das. Und dennoch hatte auch ich diese Worte in den Mund genommen. Ich hatte einfach das gesagt, von dem ich wusste, dass es ihn am meisten verletzen würde. Das war furchtbar von mir. Ich war furchtbar. Aber unglücklicherweise war ich ebenso stur wie mein Vater, durch und durch Johnson eben. Und aus genau diesem Grund konnte ich mich nicht dazu überwinden, mich bei ihm zu entschuldigen. War ich jetzt eine schlechte Tochter? Vermutlich.
Plötzlich klopfte es an meiner Tür und ich wusste sofort, wer es war. In diesem Haus gab es nur einen, der so höflich sein würde, anzuklopfen, und dann auch noch darauf zu warten, bis man antwortet. „Komm rein, Josias.“
„Woher wusstest du, dass ich es bin?“, fragte dieser und betrat mein Zimmer.
„Wer sonst würde anklopfen?“
„Du hast recht, unsere Familie ist insgesamt nicht sehr höflich veranlagt“, schmunzelte er.
Seufzend setzte er sich zu mir aufs Bett und ich legte meinen Kopf auf seinen Schoß. „Du hast irgendetwas angestellt, oder?“, fragte er mich sanft, während er über meine Haare strich. Traurig nickte ich.
„Möchtest du mir davon erzählen?“
Nein, wollte ich nicht. Ich wollte es einfach vergessen. Ich wollte, dass alles so war wie heute Morgen. Also schüttelte ich den Kopf, was ihn zum Seufzen brachte. „Ich weiß, dass du es trotzdem tun wirst. Genauso gut, wie du es weißt. Also, was hast du getan, dass Mikaël so verstimmt ist?“, fragte er noch einmal mit sanfter Stimme nach.
„Demoliert Dad mal wieder unsere Einrichtung?“, fragte ich ausweichend.
„Nein. Genau genommen leidet er nur still vor sich hin. Also, sag mir, was passiert ist.“
Oh. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Normalerweise zeigte mein Dad seine Wut immer. Immer. Meine Worte mussten ihn mehr verletzt haben, als ich dachte. „Ich habe Mist gebaut. Ich war gerade im Park, weil ich einfach mal abschalten wollte und als ich wiederkam, war Dad natürlich wütend, weil ich ihm nicht Bescheid gegeben hatte. Er hat mir verboten, das Haus zu verlassen und da bin ich so wütend geworden… Ich habe zu ihm etwas gesagt. Etwas, was einfach unverzeihlich ist.“
„Was?“
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