Plötzlich ging mir ein Licht auf. Schlagartig wurde mir klar, von wo ich die Stimme der jungen Frau vom Friedhof kannte. Sie hatte exakt die gleiche Stimme wie Anni und unsere Mutter. Das konnte unmöglich ein Zufall sein. War Anni wieder von den Toten auferstanden? Sofort verwarf ich den Gedanken wieder, sie wäre bestimmt zu uns gekommen. Spätestens auf dem Friedhof hätte sie mich erkennen müssen. Hatte unsere Mutter etwa wieder einen Weg gefunden, den Tod auszutricksen? Das wäre furchtbar, aber leider durchaus möglich.
Sofort rief ich nach meiner Familie, mit der ich zusammen in unserer großen Villa wohnte. „Mike, Josias, Sarah!“ Sarah war die junge Werwölfin, die Mayla damals zur Welt gebracht hatte und nun mit ihr auch hier wohnte.
Einen Augenblick später standen die drei um mein Bett herum. Ja, auf meine Brüder war wirklich immer Verlass. Genauso wie auf Sarah. Zumindest für mich war sie mittlerweile eine echte Johnson. „Was ist los, Aria?“, fragte Mike mich und verdrehte die Augen, als er auf die Uhr sah. So genervt war er nicht mehr gewesen, seit Mayla Probleme mit ihren Zähnen hatte und wir Tage gebraucht hatten, um einen Zahnarzt zu finden, der beim Anblick ihrer Vampirzähne nicht gleich in Ohnmacht fiel. Aber das interessierte mich gerade herzlich wenig.
„Ich war doch heute Nachmittag auf dem Friedhof bei Annis Grab. Aber ich war nicht allein. Ein kleiner Junge, etwa so alt wie Mayla, und vermutlich seine ältere Schwester waren auch da. Sie waren beide Vampire, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, woher ich die Stimme des Mädchens kannte, und es ist mir gerade wieder eingefallen.“
„Und dafür weckst du uns mitten in der Nacht?“, fragte er mich missmutig.
„Ja. Das geht uns alle etwas an und ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist. Denn das Mädchen hatte die Stimme von Mutter. Sie ist wieder da.“
„Mom?“, fragte mich Phil auf dem Rückweg.
„Ja?“
„Wer ist Baby Johnson?“
„Baby Johnson? Wo hast du das denn her?“
„Es stand auf einer Gedenktafel, neben unserer.“
„Damit bist du wahrscheinlich gemeint.“
„Aber ich war doch mit auf deiner erwähnt. Außerdem war sie fast schon rosa, das macht man doch nicht für einen Jungen, oder?“
„Nein, normalerweise nicht. Aber ich wüsste nicht, wer sonst in unserer Familie ein Kind bekommen könnte. Und du bist dir sicher, dass da Baby Johnson stand?“
„Ja, natürlich.“
„Merkwürdig. Mal sehen, vielleicht weiß Rose ja etwas darüber.“
Als wir endlich unsere Wohnung erreichten, ging Phelipe sofort in sein Zimmer, während ich mein Handy rausholte und Rose anschrieb. Auch die sieben Jahre, in denen wir uns nicht gesehen hatten, hatten unsere Freundschaft nicht beeinträchtigt. Jedenfalls ging es mir so und ich hoffte, dass es bei ihr ähnlich war. Wir hatten es immer vermieden, über aktuelle Themen in unserem Leben zu reden oder uns darüber zu unterhalten, wo wir gerade waren, weil Handys dafür einfach nicht sicher genug waren. Für Außenstehende war unser Chatverlauf somit der von zwei ganz normalen Freundinnen, auch wenn ich dank meiner Paranoia, die sich über die Jahre entwickelt hatte, regelmäßig meine Nummer wechselte.
„Hey, Rose. Ich melde mich auch mal wieder. Ich habe eine Frage an dich: Weißt du, wer „Baby Johnson“ sein könnte? Danke schon mal“, schrieb ich ihr.
Nur wenige Sekunden später kam die Antwort:
„Hey! Ja, ich weiß, wer das ist. Aber ich denke, das sollte ich dir lieber persönlich erzählen. Da du das Baby erwähnt hast, bist du wohl wieder in New Orleans, oder? Können wir uns irgendwo treffen?“
Rose war also auch noch in New Orleans, das war praktisch.
„Klar, wie wär’s im Jackson Square?“
Der Park mit dem wunderschönen, märchenhaften Schloss war quasi direkt um die Ecke und so der ideale Treffpunkt.
„Okay, bin in zwei Minuten da, wir treffen uns vor der Statue.“
Gemütlich machte ich mich auf den Weg, wobei ich in normaler Geschwindigkeit lief, um erstens nicht aufzufallen und zweitens die Gebäude und kleinen Läden zu bewundern. Es schien so, als ob alle gute Laune hätten, was vielleicht auch an den vielen Straßenmusikern lag, die an jeder Ecke und manchmal auch mitten auf der Straße ihre Jazz-Stücke spielten. New Orleans war einfach eine tolle Stadt, auch außerhalb der berühmten Bourbon Street.
Als ich um die nächste Ecke bog, lief ich direkt auf Hunderte von Touristen zu. So, wie es aussah, war hier eine Art Straßenkünstler-Ausstellung. Jedenfalls waren unglaublich viele Bilder auf einem großen Platz und auch zwischen den Straßen ausgehangen. Ich hätte hier Stunden bleiben können und auch Mike hätte bestimmt seinen Spaß gehabt, aber ich war verabredet, also ging ich mit einem sehnsüchtigen Blick auf die vielen bunten Malereien weiter, bis ich am Eingang des Jackson Squares angekommen war. Der Blick auf das wunderschöne weiße Gebäude raubte mir fast den Atem. Ich hatte in meiner Zeit hier nicht sehr viel von New Orleans gesehen, ich hatte mich nur im Nachhinein über das Internet und verschiedene Straßenkarten schlau gemacht, und umso toller fand ich die Stadt nun. Zielstrebig ging ich auf die bronzene Statue von Andrew Jackson zu und zu meinem Überraschen war Rose bereits da.
Glücklich fiel ich meiner besten Freundin in die Arme.
„Rose, ich habe dich so vermisst!“
„Mary?!“, rief sie erstaunt. Ach ja, ich hatte den Zauber, der mich zur Schwarzhaarigen machte, ganz vergessen.
„Ähm, ja.“
„Darf ich sagen, dass du dich ganz schön… verändert hast?“, fragte sie lachend.
„Ja, das kann man wohl so sagen. Du hast dich aber überhaupt nicht verändert.“ Verwirrt sah ich sie an. „Nein, ehrlich. Du siehst noch genauso aus wie mit 17.“
„Na ja, also… ähm… ich bin jetzt gewissermaßen… ein Vampirwolf.“
„Wow. Glückwunsch? Keine Ahnung, was sollte ich jetzt sagen? Was ist denn passiert?“
„Es war kurz nach deiner Abreise. Wir wurden angegriffen, von Hexen, und dabei wurde ich ziemlich schwer verwundet. Dein Bruder Kaël hat mir sein Blut gegeben, aber es war zu spät, um mich zu retten, also bin ich mit seinem Blut im Körper gestorben. Na ja, jedenfalls hat er mich so zum Vampirwolf gemacht. Aber das ist jetzt auch egal. Was habt ihr denn all die Jahre gemacht?“
„Hmm, eigentlich nichts Besonderes. Ich habe Phil beigebracht, nicht durchzudrehen, wenn er Blut riecht, nachdem ich mir das erst selber beibringen musste und wir haben ganz nebenbei noch so um die zweihundert Zauberbücher auswendig gelernt.“
„Klingt ja sehr spannend“, sagte meine beste Freundin ironisch.
„Ja, total. Vor allem, wenn man nach seiner Schwangerschaft, die man komplett eingesperrt verbracht hat, plötzlich paranoid wird.“
„Ups, sorry. Aber das bringt uns wenigstens zurück auf unser ursprüngliches Thema: Baby Johnson.“
In der nächsten Stunde erklärte mir Rose alles, was seit dem Beginn meiner Schwangerschaft passiert war. Wir waren damals nach New Orleans gezogen, weil Kaël herausgefunden hatte, dass er dank seiner Werwolfseite ebenfalls Vater werden würde. An dem Abend, an dem ich Phelipe zur Welt brachte, waren meine Geschwister gerade bei der Geburt von Mayla, Mikes Tochter. Jetzt konnte ich auch verstehen, warum wir damals ganz allein gewesen waren. Nach meinem vermeintlichen Tod hatten Mike und Sarah, die Mutter seiner Tochter, beschlossen, dass ihre Kleine hier nicht sicher war und so wie auch ich ihren Tod vorgetäuscht. Daher der Name auf dem Friedhof. In Wirklichkeit hatten sie Mayla meiner Freundin Sam gegeben, die sich vorerst um sie hatte kümmern sollen. Mittlerweile hatten sie diese Strategie jedoch wieder aufgegeben und so wohnten meine Geschwister momentan wieder mit Sarah und Mayla in ihrer Villa. Es schienen auf jeden Fall sehr ereignisreiche Jahre hier in New Orleans gewesen zu sein.
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