„Also ist Baby Johnson eigentlich Mayla Johnson, meine Nichte, die ein fast normales Leben zwischen den Ersten und Vampirwölfen lebt?“, fasste ich die Situation kurz zusammen. Das war alles wirklich merkwürdig. Etwas, was ich nicht wirklich vermisst hatte.
„Ja. Nur dass sie auch sehr mächtig ist, da sie Werwolf, Hexe und Vampir zugleich ist. Das passiert wohl, wenn der Sohn einer Hexe Werwolf und Vampir ist und ein Kind bekommt.“
„Wow, das ist…“
„Gruselig? Unnormal? Total verrückt?“, schlug Rose vor.
„Ja, das auch. Aber vor allem ist es sehr viel aufregender, aber auch gefährlicher als mein Leben. Ich bin froh, dass ich damals weggegangen bin.“
„Das kann ich verstehen. Und? Erzählst du mir jetzt auch ein bisschen mehr von deinem Leben?“
Ich erzählte Rose also noch ein paar Geschichten aus meiner Vergangenheit, auch wenn die letzten sieben Jahre weitestgehend normal waren. Unser Leben war nicht besonders spannend gewesen, glücklicherweise. Irgendwann beschloss ich, dass nichts dagegen sprach, Rose mit Phelipe bekannt zu machen. Schließlich hatte sie ihm dieses friedliche Leben erst ermöglicht.
„Was ist, Rose? Hast du Lust, mit mir zu kommen und Phelipe kennenzulernen?“
„Was? Meinst du das ernst?“
„Ja, klar. Du bist doch meine Freundin.“
„Natürlich, ich komme gerne mit!“
So machten wir beide uns wieder auf den Weg zu meiner Wohnung, auch wenn wir uns vorher noch ein paar der Bilder auf den Straßen ansahen. Zu Hause angekommen bat ich Rose herein und rief nach Phelipe. Als er nicht sofort kam, dachte ich mir zuerst nichts dabei, vielleicht hörte er einfach gerade Musik und hatte mich so nicht gehört, also wollte ich ihn aus seinem Zimmer holen. Doch als ich es betrat und es leer vorfand, wurde ich langsam panisch. Ich verfluchte mich dafür, dass ich noch keine Schutzzauber über unsere Wohnung gelegt hatte und so jeder, der kein Vampir war, ohne Probleme eintreten konnte. Verzweifelt raufte ich mir die Haare, als ich plötzlich hörte, wie Rose aus der Küche rief: „Hey, Mary. Beruhige dich wieder. Hier liegt ein Zettel von ihm.“
Sofort war ich bei ihr und sah mir den Zettel an, auf dem in Phils Handschrift geschrieben stand:
„Hey, Mom. Bin in dem kleinen Laden unten, wenn du mich suchst. Phil“
„Im Laden“, meinte ich knapp zu Rose. Wenn er jetzt nicht da wäre, würde ich erst richtig anfangen, mir Sorgen zu machen, und wenn er dann unversehrt wiederkommen würde, würden wir sofort abreisen. Also hoffte ich mal für ihn, dass er wirklich in dem Souvenirladen im Erdgeschoss war.
Ein paar Sekunden später standen wir schon vor der Tür und ich öffnete sie, woraufhin sofort ein einladendes Klingeln ertönte. Sie verkauften hier wirklich die verschiedensten Dinge, von Kleidung, Taschen, Schals und Schmuck über Tassen, Gläser, Teekannen und Servietten bis hin zu Schokolade, Bücher und die verschiedensten Andenken. Dabei waren gewöhnliche Souvenirs wie New Orleans-Broschen oder kleine Figürchen ebenso stark vertreten wie andere, seltenere Objekte wie zum Beispiel Salze, Kräuter oder angeblich magische Heilsteine. In einem Regal erkannte ich sogar verschiedene Statuen vom Eiffelturm. Wieso auch nicht?
Nach nur wenigen Sekunden sah ich aber auch endlich das, wofür ich wirklich hergekommen war: meinen Sohn. Er sah sich gerade einige kunstvolle selbstgemalte Bilder an, als ich mich von hinten an ihn anschlich und ihm plötzlich meine Hand auf die Schulter legte. Erschrocken fuhr er herum und seine Augen weiteten sich schockiert, bis ihm wohl wieder einfiel, dass die fremde Schwarzhaarige ja ich war und er erleichtert ausatmete.
„Du hast mich erschreckt“, meinte er leise.
„Du mich auch“, erwiderte ich ebenso ruhig.
„Tut mir leid.“
„Schon in Ordnung. Nur versprich mir, dass du das nie wieder machst und mir vorher Bescheid gibst, wohin du gehst, ja?“
„Versprochen.“
„Gut. Komm, ich will dir jemanden vorstellen.“
Ich konnte es nicht glauben. Meine Mutter wollte mir tatsächlich jemanden vorstellen? In sieben Jahren hatte sie mir noch nie irgendjemanden vorgestellt. Nie! Das lag daran, dass sie jeden Kontakt zu ihrem alten Leben abgebrochen hatte, wie sie mir erklärt hatte. Ich fand das ein bisschen übertrieben, schließlich waren wir in sieben Jahren noch nicht ein einziges Mal angegriffen worden, aber vielleicht lag das ja auch wirklich nur an den Vorkehrungen meiner Mutter. Sie war ständig besorgt um mich, aber ich wusste, dass sie nur das Beste für mich wollte, also vertraute ich ihr.
Aber dass sie mir ausgerechnet jetzt und hier, in meiner Geburtsstadt, jemanden vorstellen wollte, kam wirklich sehr überraschend. Hatte sie etwa jemanden aus ihrer Vergangenheit getroffen? Vielleicht sogar einen ihrer Brüder oder ihre Schwester? Schon lange wollte ich meine Verwandten kennenlernen und auch, wenn ich Ariana schon gesehen hatte, wusste sie nicht, wer wir waren. Sollte es jetzt also soweit sein? Würde ich jetzt meine Familie kennenlernen? Oder war die Person jemand, den sie gerade erst kennengelernt hatte? Aber dann würde sie ihn nicht zu mir lassen, dafür vertraute sie fremden Menschen einfach zu wenig. Doch wen wollte sie mir dann vorstellen? Ungeduldig reckte ich mich, aber hier war so viel los, dass ich nicht wusste, wen sie meinen könnte. Leise hörte ich Mom hinter mir lachen, ihr war meine Ungeduld keineswegs entgangen.
„Na, komm, gehen wir zu ihr. Sie weiß übrigens über uns Bescheid, aber sie wird uns nicht verraten, keine Sorge.“
„Sie weiß alles?“, fragte ich erstaunt nach. Niemand wusste alles über uns. Oder?
„Ja, alles“, lächelte Mom.
Wer könnte das nur sein? Jemand, dem sie genug vertraut, dass sie… Da fiel es mir ein. Bei meiner Geburt war noch ein anderes Mädchen dabei gewesen, das Mom geholfen hatte, aus New Orleans zu fliehen. Damals war sie Moms beste Freundin. Wie hieß sie denn noch?
„Phelipe, darf ich dir meine beste Freundin Rose vorstellen? Rose, das ist Phelipe.“
Neugierig musterte ich das schwarzhaarige Mädchen vor mir. Äußerlich sah sie genauso alt aus wie Mom, also musste sie wohl auch ein Vampir sein.
„Hallo“, begrüßte ich sie freundlich und streckte die Hand aus, genauso wie Mom es mir beigebracht hatte. Am Rande bemerkte ich, wie sie stolz über meine Manieren lächelte und auch die junge Frau vor mir konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Hallo“, grüßte sie mich zurück und schüttelte meine Hand. Als sie sie berührte, spürte ich ein merkwürdiges Gefühl, als ob etwas Wildes in ihr lauern würde. Ich hatte schon immer solche Dinge gespürt, wenn ich jemand Fremden berührte. Mom hatte mir erklärt, dass das an meiner Hexenseite lag. Aber dieses Gefühl gerade hatte ich noch nie gespürt.
Ein klein wenig erinnerte es mich an das Werwolfrudel, bei dem wir vor drei Jahren kurzzeitig untergekommen waren, aber da war noch etwas anderes. Es fühlte sich so ähnlich an wie bei meiner Mutter. Da fiel es mir wieder ein, was sie sein könnte.
„Du bist ein Vampirwolf!“, stellte ich erstaunt fest.
„Woher weißt du das?“, fragte Rose erstaunt, beantwortete ihre Frage dann aber selbst. „Natürlich, du bist ja Hexer und Vampir, oder?“
„Ja“, stimmte ich ihr schüchtern zu. Es war wirklich überraschend, dass sie so viel über uns wusste. Da Mom und Rose noch ein wenig Zeit miteinander verbringen wollten, erlaubte Mom mir kurz darauf, noch einmal die Stadt erkunden zu gehen, unter der Voraussetzung, dass ich dieses Mal wirklich vorsichtig war und sofort ging, wenn ich Ariana noch einmal treffen sollte.
Glücklich ging ich nach draußen und wanderte durch die Straßen zu einem Park, der hier ganz in der Nähe war. Dort angekommen setzte ich mich auf eine Bank, um die Aussicht auf das kleine Schloss zu genießen. Keine Ahnung, wie lange ich da saß, auf jeden Fall war es lange, bis sich ein Mädchen, etwa in meinem Alter, zu mir setzte.
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