Phil suchte sich ein Zimmer aus, während ich schon einmal den Rest der Wohnung begutachtete. Die Möbel waren alle noch vom Vorbesitzer, da ich nicht gleich einen Umzugswagen hatte mieten wollen. So waren wir nur mit unseren Klamotten und persönlichen Besitztümern wie Fotos und einigen Zauberbüchern angereist. Die Zauberbücher hatte ich von verschiedenen Hexen, mit denen ich mich in den letzten Jahren angefreundet hatte. Außerdem hatte ich auch begonnen, ein eigenes zu schreiben, seit ich das von meiner Mutter vor sieben Jahren zurücklassen musste.
Ich begann gerade, meine Koffer auszuräumen, als Phil mich fragte: „Mom, kann ich ein bisschen rausgehen und die Gegend erkunden?“
„Nein, ich denke, das ist noch zu früh. Du weißt doch, hier sind überall…“
„Vampire, schon klar. Aber ich bin doch selbst einer und ich kann mich verteidigen. Du hast mir das seit sieben Jahren beigebracht und selber gesagt, dass ich erstaunlich gut bin. Bitte, ich weiß, wie ich auf mich aufpasse.“
„Also schön, unter einer Bedingung.“
„Welche?“, fragte er aufgeregt. Anscheinend freute er sich wirklich, alleine gehen zu dürfen.
Ich hielt ihm einen Zauber unter die Nase, den er sich durchlas. Dadurch würde ich es sofort spüren, wenn er in Gefahr wäre, sodass ich ihn augenblicklich orten könnte. Außerdem durfte er sich nicht weiter als drei Meilen von unserer Wohnung entfernen.
„Ich bin doch kein Hund, den du an die Leine nehmen musst“, motzte er, aber ich blieb konsequent.
„Entweder so oder gar nicht.“
„Na gut, okay.“
Schnell sprach ich den Zauber. Sobald ich fertig war, verschwand Phelipe mit seinem heißgeliebten Vampirspeed.
„Pass auf, dass dich niemand so sieht!“, rief ich ihm hinterher, hörte aber nur noch ein belustigtes Schnauben, bevor ich mich wieder meinen Sachen zuwandte.
Ich rannte so schnell und weit ich konnte. Am Rande bemerkte ich, dass ich irgendwann das French Quarter verließ und im Garden District war. Aber da ich meine drei Meilen noch nicht vollständig ausgeschöpft hatte, rannte ich weiter. Plötzlich fühlte ich etwas wie eine innere Mahnung, dass ich nicht weitergehen sollte. Widerwillig folgte ich meinem Gefühl. Ich wollte nicht, dass meine Mom sich Sorgen machte, wenn ich meine erlaubten drei Meilen überschritt. Suchend sah ich mich um. Wo war ich?
Es schien so, als ob ich mitten im Nirgendwo war, in einer Wohnsiedlung oder so. Trotzdem waren hier noch erstaunlich viele Touristen und so beschloss ich, ihnen einfach zu folgen. Glücklicherweise bewegten sie sich in die Richtung, aus der ich gekommen war und so war es kein Problem für mich, ihnen zu folgen. Als wir anscheinend an unserem Zielort ankamen, sah ich mich verwundert um. Was wollten die Menschen alle hier?
Wir waren auf einem Friedhof. Dem Lafayette Cemetery, um genau zu sein. Den Namen wusste ich, da er groß auf dem eisernen Torbogen stand, der den Eingang zum Friedhof bildete. Da ich gerade eh nichts Besseres zu tun hatte, betrat ich ihn und schlenderte durch die verschlungenen Wege.
Die meisten der Gruften waren aus weißem Stein und hatten eine ebenso weiße Steintafel auf ihrer Vorderseite, auf der die Namen der Verstorbenen und verschiedene Sprüche eingraviert waren. Vor ihnen standen zumeist frische, teilweise aber auch vertrocknete Blumen, woran man erkannte, ob und wie viele Hinterbliebene ein Verstorbener hatte.
Langsam ging ich zwischen den Gräbern hindurch und genoss die ruhige Stimmung. Mir machten Friedhöfe generell keine Angst, was vielleicht daran lag, dass ich ja selbst irgendwie tot war. Auch wenn ich noch nie gestorben war, wusste ich, dass ich unsterblich war. Ich würde aufhören zu altern, sobald ich so alt wie meine Mutter zu ihrer Verwandlung, also 17, war.
Ich las die Namen auf den Tafeln und überlegte, welche Geschichten wohl hinter ihnen stecken könnten. Einige kamen mir sogar bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen. Wahrscheinlich hatte ich sie mal in einem Buch über New Orleans gelesen, da ich mich schon immer sehr für diese Stadt interessiert hatte. Mom meinte immer, dass ich für mein Alter viel zu erwachsen sei, aber die Geschichte von alten Städten, insbesondere meiner Geburtsstadt, interessierte mich nun einmal mehr als irgendwelche Kinderspiele. Vielleicht lag das aber auch daran, dass ich ja genau genommen auch nicht so war wie andere Kinder meines Alters. Nicht mal ansatzweise, ich war ja noch nicht einmal ein Mensch.
Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich einen Namen auf einer Gruft neben mir erkannte. Überrascht drehte ich mich um und ging ein Stück zurück, um den Namen noch einmal zu lesen. Nein, ich hatte mich nicht vertan. Dort, auf einer imposanten, strahlend weißen Gruft, neben halb vertrockneten Rosen, stand in schwungvoller Schrift „Johnson“. Das war der Name meiner Mutter. Genau genommen auch mein Name, aber ich hatte mich noch nie so vorgestellt, da wir unsere Nachnamen in jeder neuen Stadt änderten. Dennoch war mir der Name so vertraut wie mein eigener. Wie viele Johnsons es wohl in einer so großen Stadt wie New Orleans gab? Könnte es sein, dass dies die Gruft von der Familie meiner Mutter war? Von meiner Familie? Mir fielen zwei kleine Gedenktafeln auf, die sorgfältig neben die Rosen gestellt worden waren. Ich betrachtete die erste. Sie zeigte einen kleinen Engel und auf ihr stand „In Gedenken an Baby Johnson“.
Baby Johnson? War ich damit gemeint? Vermutlich, sonst gab es in der Familie Johnson wohl keine Babys.
Ich betrachtete die andere Gedenktafel. Auf ihr war eine Abbildung von dem Gesicht der Toten zu sehen. Zuerst war ich ein wenig geschockt, doch dann wurde mir die Bedeutung klar. Diese Gruft musste wirklich meiner Familie gehören, denn ich blickte direkt in das Gesicht meiner Mutter. Auf ihrer Tafel stand „In Gedenken an Marianne Johnson, geliebte Schwester und Freundin, und an ihren Sohn, der nie das Licht der Welt erblicken durfte“. Moment, mit ihrem Sohn war ganz eindeutig ich gemeint. Aber wem galt dann die andere Tafel? Wer war Baby Johnson?
„Hallo“, sprach mich plötzlich eine Frau an und ich drehte mich um. Ich musterte sie genau und mir fiel sofort ein, wo ich sie schon mal gesehen hatte. Ich erkannte ihre blonden Haare und das Gesicht, das so ähnlich wie das meiner Mutter war, von einem Foto, von dem Mom sich nie trennen konnte. Es zeigte ihre Familie und das vor mir war ganz eindeutig Ariana Johnson, die Schwester meiner Mutter und somit meine Tante. Innerlich schrie ich und verfluchte mich selbst. Mom hatte recht gehabt, die Wahrscheinlichkeit, meinen Verwandten zu begegnen, war enorm groß.
„Bist du ganz alleine hier?“, fragte sie.
Zögernd nickte ich. Es wäre wohl nicht sehr klug, sie zu ignorieren und sie so nur noch mehr auf mich aufmerksam zu machen. Ich war froh, dass ich wenigstens nicht mehr so aussah wie ich selbst, sonst hätte sie mich nachher auch noch erkannt, da ich meinem Vater sehr ähnlich sah.
„Und wieso, wenn ich fragen darf?“
„Ich… ich wollte meine Eltern suchen.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Danke. Ich gehe dann mal besser weiter. Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Ich wollte gerade gehen, als sie mich aufhielt.
„Warte! Vielleicht kann ich dir ja helfen, ich bin sehr oft hier“, bot sie an. „Wie hießen denn deine Eltern?“
Kurz überlegte ich, ob ich sie mit einem Zauber außer Gefecht setzen konnte, um zu verschwinden, aber dann konnte ich ein Leben in New Orleans endgültig vergessen. Außerdem wusste ich nicht, wie stark meine Zauber bei einer der Ersten wirken würden, also versuchte ich, einfach etwas Glaubhaftes zu antworten: „Ähm… sie hießen Clayton.“
„Du lügst“, stellte sie fest. „Du bist ein Vampir, oder? Einer von denen.“
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