„Würde es dir nicht helfen, wenn wir nach Hause gehen und in Ruhe mit ihm darüber reden?“, fragte Ariana noch einmal vorsichtig nach, doch Mayla schüttelte wieder nur den Kopf.
„Ich… ich will nicht… nach Hause.“
„Was wäre denn, wenn wir mal mit ihm reden?“, schlug ich leise vor. Ich wusste, dass Mike im Moment nicht sehr gut auf mich zu sprechen war, aber wenn es um seine eigene Tochter ging, würde er uns doch bestimmt trotzdem zuhören.
„Wir können sie doch nicht hier alleine lassen!“, wandte Ariana ein.
„Du hast recht. Ich kann ja auch alleine gehen. Würde das helfen, Mayla?“
Immer noch weinend nickte sie.
„Anni, denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Wenn er nicht weiß, wo Mayla ist, ist er nicht gerade der Ruhigste. Und er ist eh nicht wirklich gut auf dich zu sprechen. Denkst du nicht, dass er… na ja… vielleicht wütend reagieren könnte?“
„Doch, natürlich. Aber wenn es um Mayla geht, wird er mir zuhören. Er wird mir zuhören müssen. Und was sollen wir auch sonst für sie tun? Du hast es selber gesagt, wir können sie nicht hier alleine lassen, aber wir müssen auch wissen, was überhaupt passiert ist, damit wir helfen können. Und du hilfst ihr im Moment mehr als ich es tun kann.“
„Du hast ja recht. Pass nur bitte auf dich auf.“
„Immer doch. Bis gleich.“
„Bis gleich. Und Anni?“
„Ja?“
„Viel Glück.“
Schon kurze Zeit später stand ich in unserer Villa und rief nach meinem Bruder.
„Mike! Mike, wo bist du?“
Selbstverständlich kam keine Antwort. Man konnte Mike nicht rufen und erwarten, dass er sofort kam. Nicht wenn er einen gerade eh nicht leiden konnte.
„Mike, bitte. Rede mit mir. Ich weiß genau, dass du mich hörst.“
Keine Reaktion.
„Soll ich erst alle Zimmer durchsuchen? Komm schon, es geht um Mayla.“
„Was ist mit ihr?“
„Na endlich.“
„Ich habe dich etwas gefragt!“
„Na ja, eigentlich weiß ich nicht, was mit ihr ist. Genau deshalb bin ich ja hier.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Nun… Mayla sitzt hier in der Nähe in einer verdreckten Seitengasse und weint sich die Seele aus dem Leib.“
„Und da hast du sie alleine gelassen?! Ich wusste es! Wie konntest du nur? Wenn ich wieder da bin, werde ich dich umbringen!“
„Mike, warte! Ich habe sie natürlich nicht alleine gelassen. Ariana ist bei ihr und passt auf sie auf.“
Sofort drehte er sich wieder zu mir um. „Gut.“
„Also, kannst du mir sagen, warum deine Tochter nervlich am Ende ist?“
„Ja, das könnte ich.“
„Du wirst es aber nicht, oder?“, seufzte ich.
„Lass mich überlegen… nein.“
Ich verdrehte die Augen. „Mike, sie will nicht mehr nach Hause kommen, weil sie Angst hat. Das Einzige, was sie uns sagen konnte, war „Dad“ und dass sie nicht nach Hause möchte. Bitte, lass mich dir helfen. Wenn du es mir nicht sagen willst, dann gehe ich eben zurück und schicke Ariana zu dir. Aber wir müssen wissen, was passiert ist, um Mayla zu helfen. Denn im Moment wirst nicht einmal du es schaffen, sie zurückzubringen. Oder vielleicht auch gerade du nicht.“
Nachdenklich musterte er mich, bis er schließlich meinte: „Also schön. Dann erzähle ich es dir eben. Aber wehe, du kommst danach nicht mit meiner Tochter zurück. Denn dann…“
„…lande ich im Sarg, das ist mir klar.“
„Gut. Also, Mayla war vor einigen Tagen im Park, ohne vorher Bescheid zu sagen. Als sie wiederkam, war ich dementsprechend wütend. Es sind einige unschöne Wörter gefallen, aber schließlich habe ich ihr verziehen, da sie versprochen hat, nie wieder heimlich das Haus zu verlassen. Jetzt hat sie das aber gestern trotzdem getan. Sie hat mich angelogen und konnte ihr Versprechen mir gegenüber nicht einmal eine Woche halten. Ich war furchtbar enttäuscht.“
„Moment. Du warst enttäuscht?“, fragte ich nach. Nicht wütend?
„Natürlich. Du würdest vermutlich auch keine Luftsprünge machen, wenn Phelipe dir ins Gesicht lügt, oder?“
„Das meine ich nicht… Du warst nicht wütend?“
„Doch. Aber ich habe es nicht wirklich gezeigt, um sie nicht wieder so zu verschrecken.“
„Das erklärt einiges. Also hast du ihr stattdessen gezeigt, wie enttäuscht du von ihr bist?“
„Allerdings, ich habe es ihr schließlich ins Gesicht gesagt. Und jetzt, erklär mir, wieso meine Tochter am Ende ist, obwohl ich sie nicht angebrüllt habe.“
„Ähm… na ja, sie macht sich vermutlich Vorwürfe und hat Angst davor, dich wieder zu enttäuschen, wenn sie zurückkommt.“
„Das ist doch absurd!“
„Nein, eigentlich nicht. Ich kann sie verstehen.“
„Hör zu, Anni: Es ist mir egal, wie du es schaffst, solange du meine Tochter unversehrt zurückbringst, verstanden?“
„Ja. Ich werde dich nicht enttäuschen.“
„Das will ich auch hoffen.“
Keine zwei Minuten später stand ich wieder in der kleinen Gasse vor Mayla und Ariana und kniete mich neben sie. Mayla weinte immer noch hemmungslos.
„Hey. Ich weiß jetzt, was los ist. Aber du brauchst keine Angst zu haben, Mayla. Dein Vater wird dich immer lieben, hörst du? Er vermisst dich jetzt schon. Willst du nicht zurückkommen?“
„Nein“, schluchzte sie nur leise.
„Aber wieso denn nicht? Sieh mal, du kannst nicht immer weglaufen, wenn du mit deinem Dad streitest. Er macht sich jedes Mal unglaubliche Sorgen um dich. Ja, vielleicht hast du ihn enttäuscht, aber du darfst nicht vergessen, dass er dich immer lieben wird, egal, was du anstellst. Du machst dir Vorwürfe, oder?“
„Ja…“
„Weißt du, wenn du möchtest, dass dein Vater dir vergibt, musst du dir zuerst selber verzeihen. Was du getan hast, war falsch, aber schon die Tatsache, dass du das weißt, zeigt doch, wie sehr du es bereust. Jeder macht Fehler, aber die Starken stehen wieder auf und lernen aus ihnen. Und du bist stark, Mayla, da bin ich mir jetzt schon sicher.“
„Nein… Dad ist stark… er macht… keine Fehler.“
„Doch, Mayla. Auch dein Vater hat schon Fehler gemacht. Sogar er hat schon einige seiner Entscheidungen bereut. Es ist vollkommen normal, Fehler zu machen und diese danach zu bereuen. Aber du darfst nicht in Selbstmitleid versinken, sondern musst wieder aufstehen. Und weil du mutig bist, und klug, und stark, wirst du es schaffen, zu deinem Vater zu gehen und um Entschuldigung zu bitten. Du darfst nur niemals aufgeben und musst immer daran denken, dass du nie vollkommen allein sein wirst. Weil du dich immer an jemanden wenden kannst, wenn du Hilfe brauchst.“
„Woher weißt du, dass ich stark bin, wenn ich es selber nicht weiß?“, fragte mich meine Nichte, nun etwas ruhiger.
„Du bist eine Johnson. Und ich mag dich vielleicht noch nicht lange kennen, aber alles, was du bisher getan hast, zeigt mir, dass du es bist. Also, kommst du jetzt wieder mit nach Hause?“
„Ich weiß nicht… Dad war so enttäuscht von mir, ich denke nicht, dass er will, dass…“
„Mayla, dein Vater liebt dich. Mehr als alles andere auf der Welt. Er wird dich niemals verstoßen. Nie.“
„Woher willst du das wissen? Gerade du, gerade jetzt? Ich habe doch gehört, wie ihr euch gestern gestritten habt.“
„Vielleicht habe ich gerade ein wenig Streit mit deinem Vater, aber du siehst doch selber, dass ich trotzdem bei euch wohne. Ich könnte zurück in meine kleine Wohnung, ohne Probleme, und Mike weiß das, aber er lässt mich bei euch leben. Weißt du, warum?“
„Nein.“
„Weil wir eine Familie sind, Mayla. Und in einer Familie wird niemand einfach verstoßen oder fortgeschickt, auch wenn es Streit gibt. Siehst du, du musst nie aus eurem Haus verschwinden, du bist dort immer erwünscht. Es gibt keinen Grund, nicht nach Hause zu gehen. Also, wirst du Ariana und mich jetzt begleiten?“
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