„Nein. Ich sagte, ich würde es verstehen. Davon, dass ich dir vergebe, war nie die Rede. Wie schon gesagt, ich hatte nur einen guten Tag und war erleichtert, dass meine Tochter wieder da war. Aber du kannst nicht ernsthaft erwarten, dass du uns verlässt und ich dir dann, sieben Jahre später, einfach so wieder vertraue!“
„Es tut mir doch leid, Mike!“
„Das reicht aber nicht!“
„Was soll ich denn dann deiner Meinung nach machen?“
„Beweise mir, dass ich dir wirklich vertrauen kann. Entscheide dich. Rose oder ich?“
„Was? Das kannst du doch nicht ernsthaft von mir verlangen!“, rief ich aufgebracht, aber er blieb bei seiner absurden Forderung.
„Doch, das kann ich. Also, sag mir, wer dir wichtiger ist! Sie? Oder ich?!“
„Mikaël, stellst du unsere Schwester gerade tatsächlich vor die Wahl zwischen ihrer besten Freundin und dir?“, hörte ich Josias’ Stimme plötzlich hinter mir, aber Mike blieb unbeeindruckt.
„Und wenn dem so wäre?“
„Dann, Bruder, würde ich dir sagen, dass du dies doch bitte unterlassen sollst. Es ist verrückt, das von ihr zu verlangen.“
„Du, Josias, hast mir gar nichts zu befehlen.“
„Mike, ich kann mich nicht zwischen euch entscheiden! Ihr seid mir beide unheimlich wichtig“, schaltete ich mich wieder ein.
„Wenn du hier weiter leben willst, musst du dich aber entscheiden.“
„Bitte, Mike. Wieso verlangst du das von mir? Ich möchte nicht zwischen euch wählen müssen.“
„Du musst.“
Ich wusste, wie ich mich entscheiden würde. Mike war zwar bislang immer für mich da gewesen, aber er hatte auch schon ein paar Mal versucht, mich umzubringen, und wenn er seine Wutausbrüche hatte, war er der Horror. Wie jetzt gerade. Rose hingegen hatte mich immer unterstützt, bei jeder einzelnen Entscheidung von mir. Selbst wenn sie selbst sie nicht gutheißen konnte. Ich könnte mich nicht für Mike entscheiden, wenn ich deswegen Rose verlieren würde. Dennoch änderte das nichts daran, dass ich mich nicht entscheiden wollte.
„Bitte…“, versuchte ich es erneut.
„Mikaël, sei doch vernünftig. Marianne hat dich doch vorher noch nie enttäuscht, wieso stellst du sie jetzt also vor so eine Wahl?“
„Ich muss es von ihr hören. Sie soll zugeben, dass sie sich gegen mich verschworen hat.“
„Mike… ich habe mich nicht gegen dich verschworen und werde es auch nie. Ich werde euch niemals verraten, denn ihr seid meine Familie. Das hat sich doch nicht geändert.“
„Wie soll ich dir das denn noch glauben? Sobald dein Sohn in Gefahr ist, wirst du uns wieder verlassen.“
„Ich verspreche dir, dass das nicht geschehen wird. Ich verspreche, dass ich euch nicht wieder verlassen werde. Reicht dir das denn nicht?“
Abschätzend musterte er mich und meinte dann: „Vorerst.“
Mit einem letzten bösen Blick stolzierte er nach oben und ich drehte mich zu Josias um. „Danke.“
„Gern geschehen.“
„Josias? Kannst denn wenigstens du mir verzeihen?“
„Das kommt darauf an“, antwortete er und ich sah ihn unsicher an. Er würde doch jetzt nicht auch so etwas von mir verlangen, oder?
„Worauf?“, fragte ich leise nach.
„Bereust du es?“
„Nein. Ich bereue es nicht, dass Phil in Sicherheit aufwachsen konnte und dass er die Kindheit hatte, die er verdient. Aber ich bereue es zutiefst, dass ich euch damals verlassen habe, ohne Bescheid zu geben. Ich habe euch vermisst.“
„Und wirst du es wieder tun? Würdest du uns wieder verlassen?“
„Nein. Gerade jetzt ist es bei euch am sichersten und das wird sich auch nicht einfach so ändern.“
„Dann verzeihe ich dir.“
„Danke, Josias.“ Erleichtert umarmte ich ihn und sah ihn dann an. „Weißt du zufällig, wo Phil ist?“
„Ich glaube, er ist mit Mayla in seinem Zimmer, wieso?“
„Ach, nur so. Ich weiß einfach gerne, wo mein Sohn ist.“
„Er wirkt sehr erwachsen“, stellte mein Bruder leise fest.
„Ja, da hast du recht. Er ist sehr viel reifer als andere Kinder seines Alters. Das liegt vermutlich daran, dass er schon seit seiner Geburt ein Vampirhexer ist. Es fiel ihm immer sehr schwer, Freunde zu finden.“
„Gut, dass Mayla und er sich jetzt getroffen haben. Sie ist wie er und hat ähnliche Probleme. Ich denke, sie werden sich sehr gut verstehen.“
„Oh, das tun sie schon jetzt“, antwortete ich lächelnd und ging in mein Zimmer. Ich dachte, ich wäre jetzt meine Geschwister losgeworden, aber anscheinend lag ich falsch, denn als ich mein neues Zimmer betrat, hörte ich die leise Stimme von Ariana, die in ihrem Zimmer meinen Namen sagte.
„Ja?“
„Du und ich. Morgen in der Stadt. Shoppen. Josias passt auf Mayla und Phelipe auf. Noch Fragen?“
„Nein“, lachte ich leise. „Ist gut.“
Dann hatte ich wenigstens morgen noch etwas vor, außer Mikes Stimmungsschwankungen aus dem Weg zu gehen.
Am nächsten Morgen wurde ich von Ariana geweckt, die ohne anzuklopfen in mein Zimmer kam und sich zu mir aufs Bett schmiss.
„Komm schon, Anni, wach auf. Wir wollten doch heute shoppen gehen“, quengelte meine Schwester.
„Ariana? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, nuschelte ich müde. Ich selbst wusste es nicht, aber es war definitiv zu früh.
„Ja, es ist genau die richtige Uhrzeit zum Shoppen. Also steh schon auf.“
„Ist das dein Ernst?“
„Ja. Jetzt komm schon.“
„Lässt du mich dann in Ruhe?“
„Nein, auf keinen Fall. Du stehst jetzt auf und ich gucke nach, ob wir unten was zu essen haben. Oder isst du nicht mehr?“
„Doch. Ich brauche es zwar nicht unbedingt, aber ich esse immer noch gerne. Ich fühle mich damit normaler.“
„Okay. Also mach dich fertig.“
Sie stürmte aus meinem Zimmer und ich verdrehte die Augen, bevor ich wirklich aufstand. Bevor ich jedoch nach unten ging, sah ich noch mal bei Phil vorbei und fragte ihn, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn ich mit seiner Tante shoppen gehen würde. Beinahe überschwänglich bejahte er. Anscheinend freute er sich, schon wieder ein bisschen Zeit nur für sich zu haben.
Nach einem schnellen Frühstück nahm Aria meinen Arm und ging glücklich mit mir los. Ich hatte sie wirklich mehr vermisst als ich gedacht hatte und für einen kurzen Moment war alles wie früher.
Wir kamen gerade aus dem zweiten Laden und trugen bereits vier Taschen, als wir das Weinen eines jungen Mädchens aus einer Seitengasse hörten. Kurz sahen wir uns an und gingen dann direkt auf das Geräusch zu. Wir hatten einfach beide diesen Mutterinstinkt.
Was sich auch als ziemlich gut herausstellte, denn als wir in die kleine Straße kamen und die blonden Haare des kleinen Mädchens erkannten, flüsterten wir beide nur ein Wort: „Mayla!“
Sofort ließen wir unsere Taschen fallen und rannten zu dem Mädchen, das leise in ihre Knie schluchzte. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken, während Ariana versuchte, mit ihr zu reden.
„Mayla… Hey, meine Kleine. Was ist denn los? Sh… ganz ruhig. Sag mir, was passiert ist, dann wird es dir bestimmt gleich viel besser gehen.“
„Ich… ich will nicht.“
„Hey. Du musst ja auch nicht. Beruhige dich erst mal. Ganz ruhig, ja? So ist es gut.“
Langsam beruhigte sich meine Nichte wieder, fing aber kurz darauf sofort wieder an, zu schluchzen.
„Oh, meine Süße. Alles wird gut, hörst du? Wir sind ja da. Komm, lass uns doch erst mal nach Hause gehen.“
„Nein!“, rief sie sofort panisch und wir sahen sie überrascht an.
„Was? Wieso denn nicht?“, fragte meine Schwester sanft.
„Dad…“
„Ach, Mayla. Was hat dein Vater gemacht?“
„Er… er hat gesagt…“
Sie bekam die Worte einfach nicht raus und weinte hemmungslos in Arias Jacke. Es musste ihr wirklich nahegegangen sein.
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