Als ich die Treppe zur Kajüte hinunterstieg, hörte ich Fräulein West leise singend in ihrer Kammer umhergehen. Ich ging an der Pantry vorbei und benutzte die Gelegenheit, den Steward zu begrüßen. Hier in seinem kleinen Reich herrschte wirkliche Tüchtigkeit. Jeder einzelne Gegenstand war sauber und auf seinem Platz, und man hätte vergeblich einen Diener gesucht, der lautloser sein konnte als er. Als er mir sein Gesicht zuwandte, war es ebenso ausdruckslos – oder ausdrucksvoll – wie das einer Sphinx. Aber seine schiefen, schwarzen Augen leuchteten vor Intelligenz.
»Was meinen Sie zu der Mannschaft?« fragte ich als Vorwand, um in seine Festung einzubrechen.
»Narrenhaus«, antwortete er ohne Zögern und schüttelte unzufrieden den Kopf. »Alle zusammen verrückt. Nicht gut. Gar nicht gut. Lauter Dreck. Alles in die Hölle.«
Das war alles, was er darüber zu sagen hatte, aber es bestätigte meine eigene Beobachtung.
Meine Kabine war entzückend. Wada hatte schon alles ausgepackt, meine sämtlichen Kleidungsstücke weggelegt und unzählige Regale mit den Büchern gefüllt, die ich mit an Bord gebracht hatte. Alles war schon an seinem Platz, von meinem Rasierzeug, das im Schubfach neben der Waschschüssel lag, meinen Seestiefeln und meinem Ölzeug, das zum sofortigen Anziehen bereit hing, bis zu meinem Schreibzeug auf dem Tisch. Vor diesem stand ein mit Leder bezogener Schlingersessel, der an den Fußboden festgeschraubt war. Meine Pyjamas waren bereitgelegt, mein Hausanzug ebenfalls, wie die Morgenschuhe, die auf ihrem gewohnten Platz neben dem Bett standen.
Ich war tief verstimmt über alles, was ich an Deck erlebt hatte. Und als ich mich jetzt in meinem Sessel zurücklehnte und ein Buch aufschlug, kam es wie eine Vorahnung über mich, dass diese Reise verhängnisvoll werden sollte. Als ich mich dann aber im Raum umsah und feststellen musste, dass ich auf keinem Personendampfer je so gut untergebracht gewesen war wie hier, da ließ ich alle dunklen Ahnungen wieder fahren und malte mir aus, wie ich Wochen und Monate all die wunderbaren Bücher lesen sollte, die ich so lange vernachlässigt hatte.
Bei Gelegenheit fragte ich Wada, ob er die Mannschaft gesehen hätte. Nein, aber der Steward hatte gesagt, dass es die schlechteste Mannschaft sei, die er je auf See getroffen hätte.
»Er sagen, alle verrückt«, erklärte Wada. »Er sagen, später großer Radau. Sie sehen, er sagen die ganze Zeit. Sie werden sehen, Sie werden sehen. Er guter alter Mann. Fünfundfünfzig Jahr, er sagen. Sehr kluger Chinamann. Eben jetzt, erstes Mal in viele Jahr, er gehen wieder zu See. Vorher sind er großer Geschäftsmann in San Francisco. Dann aber großer Krach. Sie sagen, er Opiumschmuggler. Er aber kommen nicht in Gefängnis, denn er nehmen guter Anwalt, aber langer Zeit Anwalt arbeiten, und als Krach vorbei, Anwalt nehmen all sein Geld. Sein ganz Geschäft. Alles. Sehr tüchtiger Anwalt! Dann er gehen zu See. Er verdienen großen Geld. Fünfundsechzig Dollar in ein Monat. Er aber nicht froh hier. Mannschaft alles verrückt. Wenn dieser Mal Reise Schluß, er gehen von Schiff und können machen großen Geschäft in San Francisco.«
Als Wada nachher ein Bullauge geöffnet hatte, um frische Luft hereinzulassen, hörte ich das Gurgeln und Schwappen des Wassers längsseits des Schiffes. Da wusste ich, dass wir den Anker gelichtet, dass die Britannia uns ins Schlepp genommen hatte und uns zur Chesapeakebucht hinausbugsierte. Unwillkürlich meldete sich bei mir der Gedanke, dass es noch nicht zu spät sei. Ich konnte noch sehr gut das Abenteuer aufgeben und mit der Britannia nach Baltimore zurückkehren. Aber da hörte ich ein leises Klappern von Porzellan aus der Pantry, wo der Steward sich anschickte, den Tisch zu decken, und außerdem war es so warm und gemütlich hier – und das Buch war so spannend.
Das Mittagessen übertraf in jeder Beziehung meine Erwartungen, und ich stellte fest, dass der Koch ein Meister war. Fräulein West führte den Vorsitz an der Tafel, und obgleich sie und der Steward sich gar nicht kannten, arbeiteten sie doch glänzend zusammen. Nach der Präzision, mit der er bei Tisch bediente, hätte man glauben sollen, dass er seit vielen Jahren Diener in ihrem Hause war und sie genau kannte.
Der Lotse nahm sein Essen im Navigationshaus ein, so dass wir bei Tisch nur die vier waren, die während der langen Reise zusammen essen sollten. Kapitän West und seine Tochter saßen einander gegenüber, während ich rechts vom Kapitän und Pike gegenübersaß. Fräulein West saß also rechts von mir, aber um die Tischecke.
Pike hatte sich feingemacht und eine schwarze Jacke angezogen, die wie ein faltiger Sack über den mächtigen Muskeln hing, mit denen sein krummer Nacken gepolstert war. Er sprach während des ganzen Essens kein Wort. Er hatte indessen zu viele Jahre am Tisch des Kapitäns gesessen, als dass seine Manieren nicht in jeder Beziehung tadellos gewesen wären. Zuerst glaubte ich, dass er sich durch die Anwesenheit Fräulein Wests eingeschüchtert fühlte. Später wurde mir jedoch klar, dass es die Anwesenheit des Kapitäns war, die diesen Druck ausübte. Kapitän West hatte nämlich eine besondere Art ihm gegenüber, die ich allmählich kennenlernte. So fern Pike und Mellaire den Matrosen standen, einfach weil sie von ganz anderer, höherer Art waren, ebenso fern stand Kapitän West seinen Offizieren. Er war unbedingter Aristokrat, durch und durch Aristokrat.
Andererseits behandelte Kapitän West mich als einen vollkommen gesellschaftlich Gleichgestellten. Ich war ja freilich auch sein Passagier. Fräulein West behandelte mich in derselben Weise, war aber dem Steuermann gegenüber viel entgegenkommender als ihr Vater. Und Pike antwortete ihr höflich mit »ja, gnädiges Fräulein« und »nein, gnädiges Fräulein«, während er mit guten Manieren aß und mich mit seinen durchdringenden blauen Augen unter den buschigen Brauen betrachtete. Ich meinerseits betrachtete ihn auch prüfend. Trotz seiner brutalen Vergangenheit hatte ich doch Sympathie für diesen Mann. Er war anständig und aufrecht. Aber mehr noch als das gewann mich für ihn sein knabenhaftes Lachen, das er hören ließ, als ich eine lustige kleine Geschichte zum besten gab.
Fräulein West war heiter, lebhaft, erfrischend. Ich bemerkte abermals, dass das feine, fast zarte Oval ihres Gesichtes nicht ganz mit ihrer Gestalt übereinstimmte. Sie war nämlich in Wirklichkeit ein durchaus kräftiges und gesundes junges Weib, ihre Formen hatten bei aller Schlankheit doch die schwellende Rundung lebendiger Kraft. Als ich ihr Gesicht näher betrachtete, entdeckte ich auch, dass es lediglich die Linien des Ovals selbst waren, die es so zart erscheinen ließen. Es war zwar fein, aber nicht schwächlich. Ihr Hals selbst war wie eine schöne gerade weiße Säule. Selbst ihre Hände zogen meine Aufmerksamkeit auf sich – sie waren nicht klein, aber wohlgeformt, weiß und stark und gepflegt.
Fräulein West erzählte, wie unerwartet ihr die ganze Reise gekommen war – sie erklärte ihren Entschluß als eine reine Laune. Während sie sprach, rechnete ich in Gedanken aus, wie viele wirklich leistungsfähige Menschen sich auf der Elsinore befanden. Es waren Kapitän West und seine Tochter, die beiden Steuermänner, dann selbstverständlich ich selbst und Wada sowie der Steward und endlich – ganz ohne Zweifel – der Koch. Die Zahl der Leistungsfähigen betrug also acht, aber davon waren freilich der Koch, der Steward und Wada Diener und keine Seeleute und Fräulein West und ich Überzählige. Für die Arbeit selbst blieben also nur drei – drei von einer Schiffsbesatzung von fünfundvierzig Mann. Ich zweifelte nicht, dass es noch andere gab, die etwas leisten konnten, denn es erschien mir ganz unmöglich, dass mein erster Eindruck von der Mannschaft richtig sein sollte. Übrigens war ja auch der Zimmermann da – er war auf seinem Gebiet vielleicht ebenso tüchtig wie der Koch. Endlich mochten noch die beiden Segelmacher hinzukommen, die ich noch nicht gesehen hatte.
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