Aber das Schlimmste waren doch ihre Gesichter. Unwillkürlich musste ich daran denken, was Fräulein West mir soeben gesagt hatte: dass alle Schiffe einzelne Verrückte oder Schwachköpfe unter ihrer Mannschaft hätten. Diese aber sahen aus, als ob sie alle verrückt oder schwachsinnig wären ... Unwillkürlich musste ich mich fragen, wo man überhaupt eine solche Sammlung menschlicher Wracks hatte ausfindig machen können! Irgendein Gebrechen hatte jeder von ihnen. Einer – ein großer Bursche, offenbar irischer Abstammung – war unverkennbar verrückt. Er sprach und murmelte beständig vor sich hin. Ein kleines, buckliges Männlein, das immer den Kopf schief hielt, fahle blaue Augen und das pfiffigste und bösartigste Gesicht hatte, das mir je vorgekommen war, erzählte dem verrückten Iren, den er O'Sullivan nannte, einen gemeinen Witz. Aber O'Sullivan nahm keine Notiz davon, sondern murmelte weiter. Dicht hinter dem Männchen erschien ein übergroßer, dicker, junger Trottel, und nach ihm ein anderer junger Bursche, so lang aufgeschossen und ausgehungert, dass man sich nur wundern konnte, wie sein bisschen Fleisch noch die Knochen zusammenhielt. Nach diesem wandelnden Skelett aber kam das seltsamste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen. Gesicht und Körper waren wie von tausendjährigen Martern verzerrt. Er glich einem misshandelten und blödsinnigen Faun. Seine großen schwarzen Augen leuchteten mit einem merkwürdig eifrigen und schmerzlichen Ausdruck: sie glitten fragend von Gesicht zu Gesicht, von einem Gegenstand zum andern. Sie waren schmerzhaft wach, diese Augen, als suchten sie stets den Schlüssel zu einem überwältigenden und verhängnisvollen Rätsel. Erst später lernte ich den Grund dieses merkwürdigen Blickes kennen – der Mann war stocktaub, sein Trommelfell war bei der Kesselexplosion geplatzt, die auch sonst seinen Körper verunstaltet hatte.
Ich bemerkte den Steward, der in der Kombüsentür stand und die Männer aus der Ferne beobachtete. Sein scharfes, asiatisches Gesicht mit dem lebhaften und gescheiten Ausdruck war ein wahres Labsal für das Auge; und ebenso das des Knirpses, der jetzt mit einem heiterem Lachen aus dem Vorderkastell kam. Und dennoch stimmte auch bei ihm nicht alles. Er war ein Zwerg, und ich erfuhr allmählich, dass seine strahlende Laune in Verbindung mit seinem allzu geringen Verstand ihn zu einem wahren Clown machte.
Pike blieb einen Augenblick neben mir stehen. Während er die Männer beobachtete, beobachtete ich ihn. Er hatte den Ausdruck eines Viehhändlers, und es war klar, dass er mit der Qualität des gelieferten Viehs höchst unzufrieden war.
»Irgendwas hat jeder von den Kerlen –«, knurrte er. Immer neue kamen zum Vorderkastell heraus: Da war ein blasser Bursche mit lauerndem Blick, dem ich es gleich ansehen konnte, dass er dem Opium verfallen war. Da kam ein anderer, ein winziger, welker Greis mit einem runzligen, vertrockneten Gesicht und stechenden, boshaften blauen Augen. Ein Dritter tauchte auf – ein kleiner Mann in guter Form, der meinen unerfahrenen Augen als das normalste und intelligenteste Exemplar der ganzen Gesellschaft erschien. Aber die Augen des Steuermanns waren besser geschult als die meinen.
»Was ist denn mit dir los?« knurrte er den Mann mürrisch an.
»Gar nichts, Steuermann antwortete der Bursche, der sofort stehengeblieben war.
»Wie heißt du?« Wenn Pike sich an die Matrosen wandte, geschah es immer mit einem Fauchen.
»Charles Davis, Steuermann –«
»Warum humpelst du?«
»Ich humple nicht, Steuermann«, antwortete der andere respektvoll.
Als der Steuermann ihm durch ein Nicken mit dem Kopfe angedeutet hatte, dass er verschwinden dürfte, marschierte er flott über das Deck mit einem Schwung der Schultern, wie man ihn sonst nur bei Zuhältern sieht.
»Ein richtiger Seemann«, brummte der Steuermann; »aber ich wette ein Pfund vom besten Tabak oder ein Monatsgehalt, dass etwas mit ihm nicht stimmt.«
Die Back schien sich jetzt geleert zu haben, aber der Steuermann wandte sich zu den Bootsmännern und fauchte sie an:
»Was macht ihr denn, verflucht noch mal? Schlaft ihr? Bildet ihr euch vielleicht ein, dass dies ein Sanatorium ist? Marsch, hinein mit euch und jagt sie heraus!«
Sundry Buyers drückte bedächtig die Hände gegen den Unterleib und blieb zögernd stehen, während Nancy, dessen Gesicht störrische und leidende Hoffnungslosigkeit ausdrückte, sich widerwillig ins Vorderkastell begab. Dann hörte man drinnen gemeine, widerwärtige Flüche und von Nancy eindringliche und eifrige, in bittendem und demütigem Ton vorgebrachte Versicherungen.
Ich bemerkte die erboste Miene des Steuermanns und war darauf vorbereitet, Gott weiß was für Ungeheuer aus der Back auftauchen zu sehen. Zu meiner Überraschung erschienen drei Burschen, die erstaunlich besser wirkten als das Gesindel, das ich bisher gesehen hatte. Ich dachte, dass das Gesicht des Steuermannes sich nunmehr erhellen und eine gewisse Befriedigung zeigen würde. Aber nein – seine blauen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, das fauchende Knurren schien zu einem Zähnefletschen zu werden, so dass er aussah wie ein Hund, der beißen will.
Die Burschen waren alle drei klein. Und jung, zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Trotz ihrem derben Zeug wirkten sie gut gekleidet. Die Gesichter waren scharfgeschnitten und intelligent.
Sie gehörten nicht zu dem unterernährten, alkoholvergifteten Typ jener Seeleute, die ihre letzte Heuer versaufen und dann hungern, bis sie einen Vorschuss auf die neue Fahrt erhalten und wieder versaufen können. Die drei waren durchtrainiert und kräftig. Ihre Bewegungen waren von Natur lebhaft und sicher. Ich war überzeugt, dass sie gar keine Seeleute waren. Sie vertraten einen Typ, dem ich noch nie begegnet war. Vielleicht kann ich ein besseres Bild von ihnen geben, indem ich einfach schildere, was jetzt geschah.
Als sie an uns vorbeigingen, beehrten sie Pike mit demselben gleichgültigen, kühlen Blick wie mich.
»Wie heißt du ... du da?« kläffte der Steuermann den ersten des Trios an. Er war augenscheinlich ein jüdisch-irischer Mischling. Seine Nase war unverkennbar jüdisch. Ebenso unverkennbar war aber das irische Element in seinen Augen, seinem Kinn und seiner Oberlippe.
Die drei waren unwillkürlich stehengeblieben, und obgleich sie sich nicht etwa ansahen, hatte man doch den Eindruck, dass sie eine stumme Besprechung miteinander abhielten. Ein anderer des Trios gab ein Warnungszeichen. Oh, beileibe nichts so Derbes wie einen Wink oder ein Nicken, nur etwas wie der Schatten eines Ausdrucks war über sein Gesicht geflogen oder ein Leuchten plötzlich in seinem Antlitz aufgeflackert.
»Murphy –«, antwortete der andere dem Steuermann.
»Steuermann«, fauchte Pike ihn an.
Murphy zuckte die Achseln zum Zeichen, dass er nicht begriff, was der Steuermann meinte. Es war das sichere Auftreten dieser Leute, ihre kaltblütige, selbstsichere Haltung, die Eindruck auf mich machte.
»Wenn du einen Offizier hier auf dem Schiff anredest, hast du den Rang zu sagen«, erklärte Pike mit rauer Stimme. »Verstanden?«
»Jawohl ... Steuermann.« Murphy zog die Worte mit wohlberechneter Langsamkeit in die Länge. »Hab's verstanden.«
»Steuermann«, brüllte Pike.
»Steuermann«, antwortete Murphy so sanft und gleichgültig, dass es den Steuermann zu weiterem Poltern reizte.
»Gut ... aber Murphy passt mir nicht«, sagte er, »Nase ... das muss dir hier an Bord genügen. Verstanden?«
»Hab verstanden, Steuermann«, lautete die durch ihre sanfte Gleichgültigkeit unverschämte Antwort. »Nasen-Murphy also – Steuermann.«
Und dann lachte er. Alle drei lachten. Wenn man ein Lachen ohne Laut und ohne Bewegung des Gesichts Lachen nennen kann. Nur die Augen lachten. Ein Lachen ohne Heiterkeit, ein kühles, kaltblütiges Lachen.
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