Bärbel blies das Lied von der Mühle und dem zersprungenen Ringlein.
»Nun ist mir selber so traurig zumute geworden, daß ich mir ganz elend vorkomme. Ach, Lore, es ist ein seliges Gefühl, glücklich verliebt zu sein.«
Der Juni ging seinem Ende entgegen, und mit ihm rückten die großen Ferien heran. Nur ein kleiner Schmerz stand Bärbel bevor. Das war der Abschied vom Onkel Provisor, der zum 1. Juli Dillstadt verließ, da er selbst eine eigene Apotheke übernehmen mußte. Senftleben wollte bald heiraten, da ihm die neue Apotheke eine gute und gesicherte Existenz bot. Auch ihm war es nicht ganz leicht, aus Dillstadt zu scheiden. Er war über zehn Jahre in der Wagnerschen Apotheke tätig gewesen und fühlte sich mit der Familie verwachsen. Aber nun mußte geschieden sein. Das eine stand für ihn fest, daß er in engster Fühlung mit seinem einstigen Prinzipal bleiben wollte.
Da stand er nun auch vor Bärbel, denn schon die nächste Stunde führte ihn aus Dillstadt hinweg.
»Das kleine und jetzt so große Goldköpfchen wird von mir nicht vergessen werden. Wirst du noch manchmal an Onkel Senftleben denken?«
Bärbel legte in kindlichem Überschwang beide Arme um den Provisor. »Hätte ich meinen Carlos nicht, würdest du sicherlich meinem Herzen nahe stehen, Onkel Senftleben.«
»Nicht wahr, Bärbel, wir beide haben uns stets sehr gern gehabt?«
Sie nickte. »Ja, Onkel Senftleben, du warst mir immer ein treuer Freund, hast für mich manche Klippe umsegelt. Wie oft hast du mir schöne Schachteln und Dosen geschenkt. – Ja, du bist mein Freund!«
»Bleibe auch in Zukunft das liebe, gute Goldköpfchen, das jeder Mensch liebhaben muß, weil es aufrichtig und fröhlich ist. Denke immer daran, kleines, großes Bärbel …«
»Jawohl, Onkel Senftleben, ich weiß schon, und darum gebe ich dir auf deinen Lebensweg den Spruch, der über meinem Bett hängt: vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr!«
»Hast recht, Goldköpfchen, daran wollen wir beide allezeit denken.«
»Und wenn die Versuchung zu dir kommt, dann ruft dir dein Gewissen zu: sei wach!«
»Du wirst mich doch endlich einmal besuchen kommen, Bärbel?«
»Freilich, Onkel Senftleben, wenn du erst verheiratet bist. Aber, lieber Onkel Senftleben, einen guten Rat gebe ich dir – Zwillinge sind zu viel, ich habe es erlebt und denke heute noch mit Schauer daran. Immer eins nach dem andern. Ich bin ja dann schon sehr alt und komme gern deine Kinder wickeln und trockenlegen. Schreibe mir nur, wenn du soweit bist.«
»Gutes Kind!«
»Ich will dir gern behilflich sein, denn ich weiß, man hat dann alle Hände voll zu tun. Vielleicht kann deine Frau dann auch die alte Brauer kommen lassen, denn Mutti hält große Stücke auf sie.«
»Darüber können wir später reden, Bärbel.«
»Deine Frau muß vor allem darauf achten, daß die Kinder immer schnell trockengelegt werden, du hast doch gehört von der Frau Kube. – Ich habe überhaupt irgendwo ein Buch gelesen, das müßte sich deine Frau anschaffen. Darin steht alles genau beschrieben, wie man den Säugling behandelt.«
Endlich war der Abschied beendet. Bärbel hatte Tränen in den Augen, als Onkel Senftleben ihr zum letzten Male abschiednehmend mit der Hand winkte. Dann schlich sie hinaus in ihr Stübchen, schlug seufzend das Tagebuch auf und begann zu schreiben:
»Ach, Scheiden ist ein Wort, so schwer, als wenn es nicht vom Himmel wär’! – Was ist doch das Herz für ein merkwürdiges Ding! Ich glaubte, es sei ausgefüllt von ihm, Carlos, und nun erzittert es bang, wenn die Trennungsstunde von Onkel Senftleben schlägt. Aber dennoch – ich denke an ihn, und die Tränen versiegen. Carlos, Carlos, sind auch deine Rosen verwelkt, unsere Liebe blüht!«
Damit fühlte sich Goldköpfchen wieder erleichtert, aber den ganzen Tag über konnte das Kind nicht recht froh werden, und sehr oft stand es an der Glastür, die zur Apotheke hineinführte, drückte die Nase fest an die Scheiben und sah auf den Platz, an dem sonst Onkel Senftleben gestanden hatte.
»Er ist weg«, sagte sie seufzend, »schade um ihn, er war ein ganzer Mann!«
Die Ferien wurden in diesem Jahre daheim verlebt. Herr Wagner konnte nicht fort, da er einen neuen Provisor hatte, außerdem war er der Ansicht, daß eine Sommerreise diesmal nicht notwendig sei. Man hatte einen großen Garten, gute Luft, die Kinder waren alle kräftig und gesund, was brauchten sie mehr!
Aus diesem Grunde hatte man Joachim erlaubt, seinen Freund und Studiengenossen Harald Wendelin mitzubringen.
Der junge Student hatte auf den etwas leichtsinnigen Joachim den denkbar besten Einfluß. Es war eigentlich merkwürdig, daß sich zwei so verschiedene Charaktere in herzlicher Zuneigung fanden, denn Harald stand allein in der Welt, hatte schon vor Jahren beide Eltern verloren und wurde von entfernten Verwandten aufgezogen, die ihm nur mit Murren und sehr spärlich die Mittel zum Studium gaben. So hatte der junge Studiosus sein Schicksal kraftvoll in die eigenen Hände genommen, half sich durch Stundengeben und durch sein vorzügliches Klavierspielen mühsam durch.
Alles das hatte Herr Wagner erfahren und war gleich bereit gewesen, den jungen Studenten für sechs Wochen in seinem Hause aufzunehmen, damit er hier Ruhe und Erholung fände.
Für Bärbel vergingen die Tage wie im Fluge. Schmerzlich war ihr nur, daß sich ihr Carlos gar nicht mehr zeigte. Er schrieb ihr wohl, daß man in Körthenau mitten in der Arbeit stecke, aber die Briefe allein genügten Goldköpfchen nicht. Es trug sich immer wieder mit dem Gedanken, den Freund wiederzusehen.
»Mutti«, sagte Bärbel eines Morgens, »ich habe eine Bitte, kann dir aber nichts verraten. Ich möchte eine Radtour machen. Frage mich nicht, wohin, denn es handelt sich um mein Geheimnis. Ich darf dir nur sagen, daß ich eine rasende Sehnsucht im Herzen habe.«
»Ich würde die Radtour nicht nach Westen hin machen, mein liebes Goldköpfchen, man hat dort wirklich keine Zeit.«
»Ahnst du vielleicht etwas?« fragte Bärbel erstaunt.
»Nein, nein, mein Kind, aber ich denke mir, daß du nach Westen fahren willst. Bezähme deine Sehnsucht und sage dir, daß man stört, wenn man zur Arbeitszeit zu fleißig schaffenden Menschen kommt. Nimm dir dein Tagebuch vor, schreibe deine Sehnsucht hinein, und radle mit Lore woanders hin.«
»Nun gut, Mutti, ich werde meinen Mädchenstolz zu Hilfe rufen und mich noch einmal bezähmen.«
»So ist es recht, Bärbel. Damit ihr beide nun eine recht schöne Tour machen könnt, gebe ich dir auch eine Mark mit. Geh und besprich dich mit Lore, sucht euch keinen zu heißen Tag aus, und dann radelt los.«
An diesem Tage stand im Tagebuche Goldköpfchens zu lesen: »Wenn auch das Herz vor Sehnsucht bricht, mein süßer Freund, ich komme nicht – ich bin aus festem, starkem Holz, es sagte nein, mein Mädchenstolz!«
Als Lore eine Stunde später den Vers las, nickte sie. »Wenn man wüßte, Bärbel, was wir jungen Mädchen für große Opfer bringen, man wurde uns mit mehr Ehrfurcht begegnen. Aber leider behandelt man uns immer noch wie dumme Gören.«
Am 16. Juli trafen Joachim und Harald ein.
»Er sagt mir nicht recht zu«, flüsterte Bärbel der Mutter ins Ohr, »er ist so mager, es fehlen ihm auch die Locken, die Carlos hat. Ich glaube, ich werde mit ihm nie warm werden können.«
»Herr Wendelin ist ein sehr fleißiger und kluger junger Mann, mein Kind, du wirst viel von ihm lernen können.«
»Kluge Männer schätze ich nicht, Mutti. Leute, die immerzu lernen, sind mir geradezu verhaßt. Auch unsere Dichter sagen: man muß das Leben genießen und sich nicht nur in der Arbeit versenken.«
Harald Wendelin eroberte sich sehr rasch die Herzen aller Hausbewohner, nur Goldköpfchen ging mißtrauisch um ihn herum.
»Ich werde ihn erst ’mal auf die Probe stellen«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Läßt er sich zu Dummheiten heranziehen, will ich ihn in den Kreis meiner Freunde einreihen. Wenn er aber weiter so ernsthaft redet, hat er bei mir verspielt.«
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