»Mein neues Portemonnaie«, sagte Bärbel niedergeschlagen, »jetzt gehen sie mir damit durch.«
»Laufe ihnen doch rasch nach!«
Bärbel tat es wirklich. »Ach, bitte«, sagte sie, indem sie artig vor dem Ehepaar knickste, »Sie haben da eben mein Portemonnaie mitgenommen.«
»So – gehörte das dir?« fragte die Frau.
»Jawohl.«
»Dann bist also du das unnütze Mädchen, das die Leute foppen will. Ich kann mir wohl denken, was dieser Faden bedeutet. Hier hast du dein Eigentum!«
Kleinlaut ging Bärbel zurück. Für heute war ihr die Lust an dem Vergnügen vergangen.
Im Garten hockten die drei zusammen, und auch die Zwillinge gesellten sich dazu.
»Ich weiß was Feines«, sagte Martin, »wir wollen uns alle unterhenkeln und den Bürgersteig versperren.«
»Nee, ich weiß was viel Schöneres«, sagte Kuno, »wir wollen an der Straßenecke mit einem zusammenrempeln.«
»Das wäre fein«, sagte Lore, »das macht Spaß!«
Man beriet noch weiter, fand aber, daß hier nicht der geeignete Platz dafür sei. Man wollte lieber an der Ecke der Linden- und Wilhelmstraße Aufstellung nehmen. Einer mußte von der anderen Straßenseite her ein Zeichen geben, dann wollten die anderen die Fußgänger anrempeln.
»Und wenn wir sie tüchtig gepufft haben«, meinte Bärbel, »entschuldigen wir uns höflich.«
Dieser Scherz fand begeisterte Aufnahme. Hanna weigerte sich zwar, mitzumachen, wollte aber das Zeichen geben.
Bärbel teilte die Parteien ein. Auf das verabredete Zeichen hin wollten Bärbel und Lore im Eilschritt um die Straßenecke biegen, und ihnen sollten die Zwillingsbrüder auf dem Fuße folgen. Das würde ein prachtvoller Zusammenstoß werden.
»Wir müssen unbedingt in der Übermacht sein«, sagte Bärbel, »falls ein Ehepaar kommt, richten wir zwei Kinder nicht viel aus.«
Strahlend zog die kleine Schar ab. An der belebten Lindenstraße wurde haltgemacht. Hanna wurde gegenüber aufgestellt, nachdem das Zeichen verabredet worden war. Hob sie den Daumen, mußte man sich bereit halten, streckte sie dazu den Zeigefinger hoch, begann der Laufschritt. Hob sie den kleinen Finger, mußte man sich ruhig verhalten.
Da standen die vier Stürmer und schauten gespannt zu Hanna hinüber. Sie sahen, wie Hanna plötzlich freudvoll erregt von einem Bein auf das andere hüpfte, dann kam der Daumen in die Höhe, und als der Zeigefinger emporschnellte, begann der Galopp.
Bums! – Bärbel und Lore prallten gegen einen übermäßig dicken Herrn. Martin und Kuno stürmten nach und preßten die beiden Mädchen noch fester, so daß der dicke Herr ins Schwanken kam.
»Paßt doch etwas mehr auf, ihr Rangen, man rennt doch nicht um die Straßenecke im Galopp.«
Bärbel würgte mit Mühe hervor: »Entschuldigen Sie«, Lore konnte nichts sagen, denn das Lachen saß ihr in der Kehle.
Das hatte herrlich geklappt. Noch einmal dasselbe entzückende Spiel. Wieder ging der Daumen in die Höhe, der Zeigefinger folgte, die vier rannten gegen eine junge Dame, der vor Schreck Schirm und Handtasche entfiel. Sie schalt schon etwas energischer auf die wilde Schar.
Zum dritten Male! Der Daumen ging in die Höhe, die vier machten sich angriffsfertig. Gleich mußte es so weit sein. Aber im selben Augenblick sah Hanna, daß Fräulein Greger, die Schulvorsteherin, aus dem Laden des Eckhauses trat. Hastig streckte sie den kleinen Finger in die Höhe; aber die Angreifer waren so freudig erregt, daß sie den Finger gar nicht mehr sahen, sie stürmten los und rannten im nächsten Augenblick mit aller Wucht gegen ihre Schulvorsteherin.
Fräulein Greger war diesem Anprall nicht gewachsen. Sie taumelte rückwärts, prallte gegen den nach ihr kommenden Herrn, der rasch Zugriff, weil er fürchtete, daß das ältliche Fräulein fiel. So war im Augenblick nur ein Knäuel an der Ecke, denn die Zwillinge hatten Fräulein Greger noch gar nicht erschaut und stießen kräftig von hinten nach.
»Ooch«, sagte Bärbel, als es die Schulvorsteherin erkannte.
»Bärbel, – Lore – was soll das bedeuten? Aber, Kinder, wie könnt ihr so hastig um eine belebte Ecke laufen, das muß doch einen Zusammenstoß geben. Beinahe wäre ich zu Schaden gekommen. Ich weiß, ihr habt es nicht mit Absicht getan, aber in Zukunft müßt ihr euch vorsehen. Ihr seid doch groß genug, um schon zu überlegen, daß durch solch einen Zusammenstoß ein Unglück passieren kann.«
Bärbel war wie mit Blut übergossen. Fräulein Greger behauptete, der Zusammenprall sei unbeabsichtigt geschehen. Wie hatte man sich auf den Spaß gefreut! Lore sprach höflich eine Entschuldigung und bekam von Fräulein Greger einen freundlichen Blick, Bärbel fühlte sich tief beschämt.
»Dir ist wohl der Mund zugefroren, Bärbel?« tadelte Fräulein Greger, »man entschuldigt sich!«
»Entschuldigen Sie«, stotterte das Kind mit niedergeschlagenen Augen. Das kleine Herz war tief bekümmert. Fräulein Greger dachte gut von ihr, und ganz absichtlich hatte sie die Fußgänger angerempelt.
Kuno und Martin wollten den schönen Spaß noch weiter fortsetzen, aber Bärbel lehnte ab. Aber man stürzte sich auf Hanna.
»Du Gans«, sagte Bärbel, »hast du denn nicht gesehen, daß es die Greger war?«
»Ihr seid die Gänse, ich habe doch den kleinen Finger hochgestreckt.«
»Sie hat euch reinlegen wollen«, rief Martin.
»Quatsch«, sagte Bärbel, »sie ist unsere Freundin, und so was macht eine Freundin nicht. Das verstehst du nicht, kleiner Junge.«
»So klug wie du bin ich schon lange«, gab der Bruder entrüstet zurück.
Bärbel sah ihn mit blitzenden Augen an. »Du – weißt du, wer der Tyrann von Syrakus ist? Und weißt du, warum Mörus mit dem Dolch im Gewande zu ihm schlich?«
Gerade gestern hatte man in der Schule die »Bürgschaft« von Schiller durchgenommen.
»Na, siehst du«, fuhr Bärbel fort, »gar nichts weißt du! Wenn du so klug bist, so sage mir doch, was der Tyrann damit meinte: ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte?«
»Das weiß ich lange«, rief Martin.
Bärbel horchte interessiert auf. Darüber sollten sie einen Aufsatz schreiben. »Na, dann sag’s doch!«
»Nun, er wollte Skat spielen, und da brauchte er den dritten Mann.«
»Dämlicher Idiot«, sagte die ältere Schwester wegwerfend, dann wandte sie sich wieder an die Freundinnen, die zusammen flüsterten und einen neuen Streich berieten.
Bald stimmte Bärbel freudig ein. »Oh«, sagte sie, indem sie die Augen schwärmerisch verdrehte, »Kinder, das ist ein Spaß, bei dem keinem ein Unglück zustoßen kann. Wir gehen auf den Markt.«
Der Marktplatz war bald erreicht. Auch die Zwillinge gingen mit. Gerade jetzt, wo es bereits zu dunkeln anfing, war der Plan besonders leicht auszuführen.
Am Rinnstein standen die fünf. Bärbel zeigte mit ausgestreckter Hand hinein. »Oh – da ist es – schrecklich –!«
»Fürchterlich«, schrie Lore, »und jetzt ist es dort!« Sie zeigte nach einer anderen Stelle.
Die Zwillinge lärmten mit. »Beißt es? – Au – au!«
»Geht nicht zu nahe heran!« Es war Bärbels Stimme.
Die Bäckersfrau trat aus dem Laden. »Was habt ihr denn, Kinder?« Keiner hörte, dafür aber tönte es aus fünf Kehlen:
»Da – da ist es – oh, wie es schrecklich aussieht, – fürchterlich – ich habe Angst!«
»Was ist denn da?«
Es dauerte nur wenige Augenblicke, da standen zehn Dillstadter um die Kinder herum. Bärbel warf Lore einen vielsagenden Blick zu und schrie plötzlich auf, indem sie mitten in die Menge wies:
»Da huscht es!« Es bildete sich eine breite Gasse, und diesen Augenblick benützten die beiden Mädchen, um schleunigst davonzueilen.
»Was ist denn hier zu sehen? – Wissen Sie es?« Einer fragte den anderen, immer mehr Menschen kamen herbei. Hanna und die Zwillinge drückten sich ebenfalls, und an der nächsten Straßenecke standen die fünf und kreischten vor Lachen, denn manch ein Dillstadter hatte sich zur Erde gebeugt, suchte den Rinnstein ab; aber keiner fand etwas.
Читать дальше