Der große Augenblick kam bald. Anita wurde gefragt, sie erhob sich, ein energischer Ruck folgte, mit Gepolter fiel Anita zurück, und schlug mit dem gezerrten Bein gegen die Bankkante.
»Was machst du schon wieder, Anita?« sagte Fräulein Fiebiger empört.
»Ich bin irgendwo hängengeblieben, Fräulein.«
Lore hatte sich schon gebückt, die Schlinge vom Fuße Anitas entfernt und den Bindfaden in der Tasche verborgen.
Aber als das Spiel wiederholt wurde, merkte Anita die Bosheit.
»Sie haben mich festgebunden, Fräulein, ich habe mich furchtbar geschlagen!«
Ehe es Lore gelang, die Schlinge wieder zu lösen, hatte Anita den Bindfaden ergriffen, hinkte damit zu Fräulein Fiebiger, um ihr alles zu zeigen.
»Einen blauen Fleck hab’ ich mir geschlagen. Wenn ich dünne Seidenstrümpfe anhabe, ist das ganze Bein ruiniert.«
Fräulein Fiebiger brauchte nicht erst zu fragen, wer der Beteiligte war. Auf den Gesichtern der kleinen Missetäter stand die reinste Schadenfreude.
»Habe ich euch nicht eben einen Vortrag gehalten, wie häßlich es ist, anderen einen Schabernack zu spielen? Habe ich euch nicht mit strengster Strafe gedroht?«
Anita heulte immer lauter. »Sie hätten mir das Bein ausreißen können.«
»Ich sagte euch, daß ich derartige Ungezogenheiten streng bestrafen werde. Hast du das nicht gehört, Bärbel?«
»Sie sagten doch: von morgen ab. Und da haben wir es schnell noch heute gemacht!«
»Du bist ein ganz naseweises Ding, Bärbel. Du wirst mit Lore heute ebenfalls nachsitzen.«
»Da hätten wir die Sache auch morgen machen können«, flüsterte Bärbel der Freundin zu. »Morgen hätten wir einen dicken Strick gehabt, da wäre sie platt auf den Bauch gefallen, wenn wir mehr angezogen hätten. Schade!«
Nach Schulschluß saßen die drei Sünder nach. Fräulein Fiebiger wich nicht aus dem Zimmer, sie fürchtete, daß die feindlichen Parteien sich tätlich angriffen. Sie schickte auch die Nachsitzer in Abständen heim, um zu verhüten, daß vor der Schule eine Prügelei stattfand.
In der Apotheke wartete man auf Bärbel. Frau Wagner schaute sorgenvoll nach der Uhr. In der letzten Zeit hatte Bärbel den Eltern Freude gemacht, sie hatte fleißig gelernt, aber heute schien nun doch wieder einmal etwas vorgefallen zu sein, sonst wäre Goldköpfchen längst daheim.
Da erschien das Mädchen von Fräulein Greger und brachte ein Paketchen. Man habe den Inhalt gefunden, er gehöre wohl Bärbel. Ahnungslos wickelte Frau Wagner das Paket auf und sah auf den Unterrock.
»Gefunden, – wo hat man das hier gefunden?«
Die Botin konnte darüber keine Auskunft geben. In Frau Wagner stieg grenzenlose Angst auf. – Was war geschehen? Wie konnte jemand Bärbels Unterröckchen finden? War dem Kinde etwas zugestoßen?
Vielleicht hatte man Goldköpfchen entkleiden müssen, der Unterrock war liegengeblieben. Ein Unglücksfall geschieht so rasch. – Die gräßlichsten Bilder stiegen vor den Augen der besorgten Mutter auf. Sie holte Hut und Mantel, und ohne dem Gatten etwas zu sagen, eilte die geängstigte Mutter nach der Schule.
Gerade vor der Haustür des Schulhauses traf sie mit Bärbel zusammen, die die Augen zusammenkniff, als sie die Mutter erblickte.
»O-o-ch, du holst mich ab, – das ist fein!«
Frau Wagner sah nur das gesunde Kind vor sich stehen, sie breitete die Arme aus und zog Goldköpfchen an sich. Erst langsam wurde sie wieder ruhiger. Bärbel schaute unsicher nach der Mutter, sie konnte sich deren Verhalten nicht erklären. Sie mußte nachsitzen und wurde dafür von der Mutter umarmt. Aus der Unsicherheit heraus wagte sie auch keine Frage, sondern schritt artig neben der Mutti daher. Erst nach einer längeren Weile hatte Frau Wagner die Ruhe zurückgewonnen und forschte nun, warum das Kind heute so spät aus der Schule käme.
»Wenn ich dir jetzt sagte, daß ich nachgesessen habe, Mutti, würdest du einen ganz falschen Begriff bekommen. Ich habe zwar nachgesessen, aber nur, weil die Anita schuld daran war. – Ach, Mutti, das ist eine lange Geschichte.«
»Warum hast du denn kein Unterröckchen an?«
Bärbel schaute an sich nieder, hob das blaue Röckchen auf und blieb für Sekunden stehen. »Siehst du, Mutti«, sagte sie endlich, »daran ist auch die Anita schuld. Der Rock ist noch im Kloster.«
»Du scheinst ja wieder nette Sachen zu machen, Bärbel?«
Das Kind legte der Mutter die Hand auf den Arm: »Bitte, liebe Mutti, warte noch mit dem Schelten ein wenig, ich muß dir erst alles genau erzählen.« Nun wurde die ganze Geschichte von dem Juckpulver berichtet, und Goldköpfchen redete sich schließlich in solche Wut, daß es die Hände zu Fäusten ballte. »In der Schule darf ich mich nicht an ihr rächen, aber, nicht wahr, liebe Mutti, nächstens laden wir sie ein. – Aber dann geht es los!«
»Wir werden das unartige Mädchen überhaupt nicht mehr einladen, Kind; im übrigen wäre es besser, wenn du dich um Anita nicht mehr kümmertest.«
»Laß dir ’mal vom Onkel Provisor Juckpulver in den Hals streuen, dafür verhaust du ihn auch!«
Für diesmal verzieh man Bärbel das Nachbleiben.
Der Straßenschreck in Dillstadt
Hinter der dichten Hecke, die das Grundstück des Apothekenbesitzers Wagner abschloß, kauerten drei Mädchen und kicherten verstohlen. Man hatte sich für heute abend einen famosen Spaß ausgedacht und ging nun an die Ausführung. Ein Portemonnaie wurde an einen langen Bindfaden gebunden und auf den Bürgersteig gelegt. Der Faden, etwas mit Staub bedeckt, führte durch die Hecke hindurch nach Bärbels Hand. Die beiden Schulfreundinnen Lore und Hanna warteten nun darauf, daß jemand des Weges kam, um den Geldbehälter aufzunehmen. Hanna stand Schmiere und kündete an, wer sich sehen ließe.
Auch jetzt schlich sie sich an ihren Ausguck, wandte sich aber sofort um und flüsterte beinahe erschreckt den beiden anderen zu:
»Der Herr Pastor!«
Hopp! Das Portemonnaie verschwand in der Hecke.
Der Pastor ging vorüber, die drei Mädchen verhielten sich mäuschenstill. Dann wurde Lore erneut ausgeschickt, um die Börse wieder auf den Bürgersteig zu legen.
Bald meldete Hanna: »Die Dicke vom Fleischer Penken!«
»Au – fein!«
In atemloser Spannung erwarteten die drei die dicke Fleischersfrau, die langsam und gemächlich daherkam. Nun war sie herangekommen, schritt über den Bindfaden hinweg und sah das Portemonnaie nicht.
»Die hat keine Augen im Kopfe«, schalt Bärbel, und Lore stimmte verärgert ein.
Aber schon kam wieder jemand daher, das hagere Fräulein von Tillich.
»Die hat die Nase immer auf der Erde«, flüsterte Bärbel.
Und richtig. Das ältliche Fräulein kam heran, stutzte einen Augenblick, blieb dann stehen, beugte sich nieder, griff nach der Börse und schrie im nächsten Augenblick auf, denn der gefundene Gegenstand hüpfte in großem Bogen aus ihrer Hand.
Sie sah sich nach allen Seiten um, dann eilte sie hastig davon.
Die drei Kinder hinter der Hecke hatten Mühe, das Lachen zu unterdrücken.
»Schnell, schnell, dort kommt ein Mann«, schrie Hanna, und wieder lag die Börse auf dem Bürgersteig.
Es war ein robuster Arbeitsmann, der ebenfalls den ausgelegten Gegenstand sah, sich niederbeugte, um ihn aufzuheben; auch ihm sprang das Portemonnaie aus der Hand. Da schaute der Große über die Hecke, denn er hatte das unterdrückte Lachen gehört.
»Ihr verflixten Bälger, na wartet, ich komme ’rein!«
Wie die Windhunde waren die drei davon, während der Arbeitsmann ruhig weiterging.
Ein Ehepaar kam des Weges, und wieder lag das Portemonnaie hingeworfen auf der Straße.
»Schau nur, Emil.« Schon beugte sich die Frau nieder, nahm die Börse, Bärbel zog an dem Faden, der riß, denn der Fuß des Ehemannes stand darauf. Die beiden gingen weiter, und betrübt standen die drei Mädchen da.
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