»Dein Bruder hat auch schon bei mir verspielt«, sagte Lore ärgerlich. »Denkst du, er hat mir das Taschentuch aufgehoben, das ich heruntergeworfen habe? Er ist ruhig sitzengeblieben. Ich habe eine ganze Weile gewartet, dann habe ich ihm gesagt, daß er vielleicht schon gelernt hat, wie man eine Maschine ölt und einen elektrischen Kontakt in Ordnung bringt, aber von Höflichkeit gegen Damen wisse er gar nichts.«
»Das war fein«, sagte Bärbel strahlend. »Was hat er darauf gesagt?«
»Dummes Mädel! – Mit dem ist es aus!«
»Was machen wir mit dem anderen? Er muß erst erprobt werden.«
»Ob er für uns aus den Kirschbaum steigt?«
»Er soll zu uns kommen und mit der Stange den Pflaumenbaum schütteln. Weißt du noch, Bärbel?«
»Ach nein, Lore, wenn der große, dürre Mensch in den Graben fällt, brechen ihm alle Rippen entzwei.«
»Nun ja – aber was machen wir mit ihm?«
»Ich weiß! – Ich habe eine alte Handtasche, in die schneide ich ein Loch. Dort hinein legen wir Kirschen, und dann gehen wir vor ihm her, und ich lasse die Kirschen langsam herunterfallen. Wenn er sich bückt und die Kirschen aufhebt, ist er ein Kavalier.«
»Und wenn er sie selbst aufißt? – Er sieht so verhungert aus!«
»Dann ist er ein Schuft, und unser gutes Verhältnis ist gestört.«
Gesagt – getan! Als man eines Nachmittags wieder in den Garten ging, füllte Bärbel die zerschnittene Handtasche mit Kirschen und lief der Mutter, die mit Harald hinterher kam, voran.
Die erste Kirsche fiel – die zweite folgte, die dritte –da rief Frau Wagner: »Kind, du verlierst ja deine Kirschen.«
»Ach – wirklich?« klang es heuchlerisch zurück. Bärbel blieb stehen, um zu sehen, ob der Student die Kirschen aufheben werde.
»Aber, Bärbel, wie kannst du so liederlich sein und eine solche Handtasche benutzen. Schäme dich, Kind!«
Goldköpfchen wurde glühend rot. Es warf einen scheuen Blick aus den Studenten und sah, wie auch er die zerrissene Handtasche betrachtete. Da machte das Kind kehrt, lief wie gejagt ins Haus, schleuderte die Tasche in den Winkel und rief:
»Jetzt bin ich auch noch vor ihm blamiert, jetzt wird er mir seine Achtung versagen.«
Im Tagebuch wurde eine ganze Seite damit gefüllt, daß sie den neuen, dürren Studenten aus tiefster Seele haste. Dann ging sie nach der Ecke, wo die Tasche lag, hob sie auf, nahm die Kirschen heraus und aß sie, eine nach der anderen, als Beruhigungsmittel auf.
Obwohl sich Harald Wendelin als ein sehr angenehmer Hausgast zeigte, vermochte Bärbel doch nicht, sich für ihn zu erwärmen. Er war ihr viel zu ernst, lachte wenig und arbeitete sogar in den Ferien. Das war etwas, was sie nicht begriff. Er gefiel ihr nur dann, wenn er sich ans Klavier setzte und spielte. Wie ganz anders klang das Instrument unter seinen Händen, als wenn sie selbst oder die jüngeren Brüder darauf spielten.
Eines Tages kam sie gerade dazu, als Wendelin am Piano saß und phantasierte.
Er hörte auf, als sie das Zimmer betrat.
»Ich habe eine Bitte an Sie«, begann Bärbel schüchtern.
»Sehr gern, Fräulein Bärbel, was wünschen Sie?«
»Sie spielen sehr schön. Wollen Sie mir auch einmal ein Lied vorspielen?«
»Herzlich gern, – was wünschen Sie zu hören?«
Sie kramte in den Noten und legte ihm schüchtern das Lied von Grieg, »Ich liebe dich«, hin. »Es ist sehr schön, und wenn Sie es mit Gefühl spielen, ist es noch viel schöner. Ich kann es nicht.«
Unter seinen Händen sang das Klavier. In mächtigen Akkorden brauste das Lied über Goldköpfchen hinweg. Bärbel hatte sich still in die Zimmerecke gesetzt, ihre Lippen bewegten sich, sie sprach lautlos den Text dazu.
»Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit!«
Als er mit dem Spiel geendet hatte, rührte sie sich nicht. Es war so wunderschön gewesen. Schließlich eilte sie hinaus, ohne ein Wort des Dankes zu sagen. Sie nahm ihr Tagebuch hervor, griff zur Feder und ließ noch einmal die herrliche Melodie an ihrem Ohr vorüberziehen.
Plötzlich tropfte eine Träne aus ihrem Auge gerade auf die Mitte der Tagebuchseite.
Sie schrie vor Entzücken auf, dann raste die Feder über das Papier. »Ich habe um ihn geweint! – Zum ersten Male, – hier, diese Träne sagt es! Vom Herzen kommend ist sie ins Auge gestiegen und gefallen. Carlos, – ich habe um dich geweint! – O, wie mich das glücklich macht!«
Sie eilte zu Lore und berichtete ihr das Unfaßliche. »Heute habe ich um ihn geweint, Lore!«
Lore konnte diese Gefühlsregung nicht recht verstehen, nickte aber dazu. »Ja, Bärbel, es muß schön sein, wenn einen die Liebe weinen läßt.«
Neugierig schlängelte sie sich auch an Wendelin heran, bat ihn, er möge das Lied noch einmal spielen, was er gern tat.
»Eigentlich ist es keine schöne Melodie«, sagte sie später zu Bärbel, »mir gefallen andere Sachen viel besser. Aber ich bewundere dich doch, daß du um ihn geweint hast.«
Seit diesem Tage hatte Bärbel etwas mehr für den Studenten übrig. Sie kramte die Noten durch, und jedesmal, wenn sie irgendwo ein Liebeslied fand, ließ sie es sich von ihm vorspielen. Doch keines erpreßte ihr mehr Tränen, und sie hätte so gern noch weitere Tagebuchblätter durchnäßt.
Dann rückte der Schulanfang wieder in bedrohliche Nähe. Die beiden Studenten hatten noch drei volle Wochen Ferien, als Goldköpfchen zum ersten Male wieder mit ihrer Mappe unter dem Arm zu Fräulein Greger gehen mußte.
Als sie an einem Freitagmittag aus der Schule heimkehrte, sah sie in ihrem Zimmer einen Blumenstrauß stehen, ein Brief lag daneben.
»Von Carlos!« jauchzte sie auf. Aber der Brief war nicht von Carlos, sondern von Onkel Senftleben. Ein silbernes Kettchen, an dem ein kleiner silberner Fisch hing, kam zum Vorschein, dazu ein herzliches Schreiben, das damit begann: mit vierzehn Jahren und sieben Wochen ist der Backfisch ausgekrochen!
Bärbel schrie vor Freude laut auf. An diesen großen Tag ihres Lebens hatte sie noch gar nicht gedacht. Das war ja ein Ereignis, das in der Familie gefeiert werden mußte.
»Mutti, Mutti, ich bin ein Backfisch!«
»Ich weiß, mein liebes Goldköpfchen!«
»Feiern wir das?«
»Nun, ein Grund zum Feiern ist eigentlich nicht vorhanden, aber du darfst dir deine Freundinnen einladen.«
Beim Mittagessen winkte doch eine Überraschung. Um Goldköpfchens Teller lag ein grüner Kranz, und in diesem Kranze waren lauter kleine, silberne Pappfischchen. Der Vater nahm Bärbel in seine Arme.
»Kleiner Backfisch, nun geht es auf die junge Dame los! Bleib mein braves Bärbel, sei kein zu unartiger Backfisch, laß alle unschönen Backfischstreiche bleiben, lerne auch in Zukunft brav, damit du im Leben deinen Mann stehst.«
Die Mutter sprach herzliche Worte, dann kam der Bruder. »Na, allmählich fängst du nun an, Mensch zu werden. Und in zwei bis drei Jahren kann man dich dann für voll ansehen. – Vorläufig bist du noch nischt.«
»Meinst du, daß du schon was bist?« gab die Schwester zurück, »du bist noch viel nischter als nischt!«
»Lassen Sie mich Ihnen zum heutigen Tage auch gratulieren, Fräulein Bärbel, möge Ihnen eine recht glückliche Backfischzeit bevorstehen.«
»Hoffentlich, mit viel Freude und wenig Gelerne.«
»Dann will ich noch ergänzen, daß dem Fräulein Backfisch das Lernen in Zukunft Freude bereiten möge!«
»Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben, Herr Studio!«
Das Kettchen mit dem Fisch lag um Bärbels Hals, sie kam sich sehr stolz vor.
»Habt ihr eigentlich Carlos benachrichtigt, daß ich heute ein Backfisch werde?«
»Nein.«
»Das hätte er eigentlich nicht vergessen dürfen!«
»Vielleicht ist seine Liebe gestorben«, rief Kuno.
Bärbel schüttelte den Kopf. »Liebe ist ewig, aber das verstehst du noch nicht, kleiner Junge, – er wird noch kommen.«
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