»Eine halbe Stunde wartete ich nun schon auf dich, Bärbel …«
»Das ist freilich sehr schlimm, Großchen. Aber denke doch an unser Glück. Seit vierzehn Tagen haben wir ihn nicht gesehen, und heute, als wir gerade aus der Schule kommen, geht er drüben auf der anderen Straßenseite. Ein Glücksgefühl durchsauste mich! – Ach, Großchen, wenn du ihn gesehen hättest! Er ist doch zu herrlich!«
»Du meinst natürlich wieder deinen angeschwärmten Armin Rabes!«
»Ja«, sagte Bärbel und verdrehte schwärmerisch die Augen, »denke dir, Großchen, er spielt nächstens in den ›Räubern‹! Liebes, allerliebstes Großchen, ich kaufe mir auch keine neuen Handschuhe, ich flicke die alten wunderbar aus, sollst mal sehen, wie ich das kann. Aber laß mich auf den Olymp!«
»Wir sind doch gerade erst im ›Tell‹ gewesen, liebes Bärbel.«
»Ach der ›Tell‹, Großchen, da hat er doch nicht mitgespielt. Aber als Räuberhauptmann –! Ach Großchen, ich könnte für ihn auch zu den Räubern gehen.«
»Jetzt setze dich lieber nieder, mein Kind, wir wollen essen. Es ist wirklich spät genug.«
»Du mutest mir viel zu, Großchen. – Das Glück steckt mir wie ein Kloß in der Kehle!«
»Sage mir lieber, was du für eine Zensur im deutschen Aufsatz bekommen hast.«
»Eine Zwei, Großchen.«
»Das ist brav, Bärbel.«
»Und dafür darf ich auf den Olymp? Edith will auch mit. – Großchen, Edith hat mich heute furchtbar beneidet. Er hat mich angelächelt, wirklich mich! – Ich war nahe daran, meine Mütze vor ihm zu ziehen.«
»Die laß nur auf dem Kopfe sitzen, mein Kind.«
»Geglüht habe ich, Großchen, – ach, das Blut rast einem durch die Adern, wenn man ihn lächeln sieht. – Großchen, hast du jemals einen Künstler geliebt?«
»Geschwärmt habe ich für manchen!«
»Geschwärmt«, sagte Bärbel verächtlich, »ich meine, ob du ihn mit allen Fasern deines Herzens geliebt hast?«
»Nein, mein Kind, das nicht. Das ist ja auch keine Liebe, Bärbel; man verehrt den Künstler, erfreut sich an seiner Kunst, man sieht ihn gern auf der Bühne …«
»Ach, mir geht es ganz anders, Großchen. Ich könnte für ihn sterben! – Ach, wenn du nur wüßtest, wie er gelächelt hat!«
Das Essen war aufgetragen: aber obwohl Bärbel sonst sehr rasch ihre Portionen verschlang, heute ruhten Messer und Gabel gar oft, denn es gab viel zu erzählen.
»Wie glücklich müssen die Leute sein, bei denen er wohnt. Großchen, könnten wir denn nicht auch ein Zimmer vermieten? Wir würden es an einen Künstler ganz billig abgeben. Ach, überlege dir das doch einmal, Großchen.«
»Wir brauchen unser Fremdenzimmer, mein Kind. Wo sollen wir denn deine Mutti hinlegen, wenn sie zu uns kommt?«
»In mein Zimmer, Großchen. – Ich würde für einen Schauspieler alles opfern. – Ach, Großchen, er wohnt bei einer Kaufmannswitwe. Wir sind schon so oft an seinen Fenstern vorbeigegangen. Edith hat ihm neulich eine Rose vor die Korridortür gelegt.«
»Hat er denn gewußt, daß die Rose für ihn bestimmt war?«
»Er muß es geahnt haben.«
So ging es noch ein Weilchen weiter. Bärbel konnte heute nicht genug von dem ersten Liebhaber des Stadttheaters erzählen, der auf das junge Mädchen einen starken Eindruck gemacht hatte. Seit Bärbel den Schauspieler Rabes zum ersten Male in der »Maria Stuart« gesehen hatte, schlug ihr Herz leidenschaftlich für den Künstler. Alles Taschengeld war für Postkarten, die sein Bild zeigten, ausgegeben worden, alle Löschblätter trugen verschnörkelt seinen Namen, und in stillen Stunden dichtete Bärbel den verehrten Künstler an. Sie bedauerte es unendlich, daß sie nicht mit der gleichen Begabung versehen war, die der Unterprimaner Gerhard Wiese sein eigen nannte. Gerhard Wiese schickte fast jede Woche an Bärbel ein Gedicht, und jedesmal bewunderte sie aufs neue seine große Kunst. In ihren Augen würde Wiese ein zweiter Schiller werden; er hatte ihr verraten, daß er jetzt an einem achtaktigen Schauspiel arbeite, das zum Helden den Cheruskerfürsten Hermann habe und das wahrscheinlich im Dresdener Theater zur Aufführung kommen werde. Bärbel hatte sich lebhaft nach diesem Stück erkundigt und gefragt, ob darin auch für Armin Rabes eine schöne Rolle enthalten sei. Und da ihr der Primaner bestätigte, daß Hermann geradezu eine Bombenrolle sei, ersehnte Bärbel den Augenblick, wo das Schauspiel vollendet sein würde.
Auch die Großmama wußte von diesem Stück, nur mochte sie nicht daran glauben, daß der Cheruskerfürst demnächst in Dresden aufgeführt werde. Bärbel konnte Frau Lindberg nicht davon überzeugen, daß Gerhard Wiese das größte Dichtertalent sei, das gegenwärtig in Deutschland lebe.
»Großchen, ich habe heute übrigens von Gerhard wieder ein Gedicht bekommen. Ich habe es Edith gezeigt, und sie meint, es sei das schönste Gedicht, das sie jemals gelesen habe.«
»So, so, hat er mein Bärbel angedichtet?«
»Ja, Großchen, in den wunderschönsten Ausdrücken!«
»Darf ich das Gedicht nicht einmal sehen, mein Kind?«
Bärbel würgte erst einige Male an einem Bissen, dann sagte sie kleinlaut: »Großchen – es handelt ein wenig von der Liebe.«
»Das kann ich mir denken, Bärbel, aber ein schönes Liebesgedicht hört dein Großchen auch ganz gern.«
»Ich trage es auf dem Herzen.«
»Dann kannst du es mir ja nach Tisch gleich vorlesen.«
»Ich habe schon daran gedacht, Großchen, daß ich es schön abschreibe, auf Elfenbeinpapier. Dann werde ich es Armin Rabes zuschicken.«
»Er könnte dann aber denken, daß du es gedichtet hast, Bärbel.«
»Ach«, sagte der Backfisch schwärmerisch, »wenn er es doch denken wollte! – Großchen, du mußt das Gedicht gleich jetzt hören.«
Bärbel griff in den Halsausschnitt ihres Kleides und zog ein Blatt Papier hervor.
»Also höre, Großchen, was ein bedeutender Dichter zu sagen hat.«
Großchen lehnte sich erwartungsvoll im Stuhl zurück. Bärbel begann mit Pathos:
»Mein Herz, ich will dich fragen:
Was ist die Liebe, – sag?
Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.
Und sprich, woher kommt Liebe?«
Da fiel die Großmama plötzlich ein:
»Sie kommt, und sie ist da.
Und sprich, wie schwindet Liebe?
Die war’s nicht, der’s geschah.«
»Großchen«, rief Bärbel mit weit geöffneten Augen.
»Wer soll der Dichter sein, Bärbel?«
»Gerhard Wiese, Großchen!«
»In meiner Zeit hieß der Dichter Friedrich Halm.«
Eine Weile war Bärbel starr. Dann sagte sie fragend:
»Abgeschrieben? – Gestohlen?«
»Ich will dir nachher einen Band Gedichte geben, mein liebes Kind, in dem das ganze Gedicht zu finden ist.«
»So ein Schurke!« rief Bärbel entrüstet. »Dabei hat er mir zugeflüstert, er hätte es heute nacht gedichtet.«
»Da hat er dich freilich ein wenig bemogelt. Hoffentlich schreibt er seinen Cheruskerfürsten nicht auch irgendwo ab.«
»Großchen, du treibst mir einen Pfeil ins Herz, – ich finde das empörend. Ich habe bereits siebzehn andere Gedichte von ihm. – Ob er die auch alle abgeschrieben hat?«
»Nun, vielleicht hat er einige davon selbst gedichtet.«
»Und ich habe an sein Genie geglaubt. – Großchen, kennst du alle Gedichte?«
»Nein, Bärbel, das ist ganz unmöglich!«
»Wehe ihm, wenn er die anderen auch abgeschrieben hat! – Großchen, es ist eines darunter, das habe ich auswendig gelernt, weil es so wundervoll ist.«
»Sage es einmal her, vielleicht ist es mir bekannt.«
Und Bärbel begann:
»Du schönes Dillstädter Mädchen,
Treibe den Kahn ans Land,
Komm zu mir und setze dich nieder.
Wir kosen Hand in Hand.«
»Freilich, kenne ich das, Bärbel. Das Gedicht ist von Heinrich Heine. Nur heißt es bei ihm nicht Dillstädter Mädchen, sondern Fischermädchen.«
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