Irenes Beliebtheitsgrad schien generell sehr groß unter all diesen Menschen hier zu sein.
»Ein paar Tage im Frühjahr kommt sie auch zu uns auf die Holmestead Farm«, fuhr Luke fort.
»Joanne und sie fahren dann gemeinsam in die Stadt, einkaufen, Theater und so ‚nen Kram.« Luke zögerte einen Augenblick.
»Ihr werdet sie doch finden, nicht wahr?«, fragte er unsicher. Man konnte ihm seine Besorgnis ansehen.
»Es ist nicht ihre Art einfach so zu verschwinden, nicht in ihren schlimmsten Tagen. Glaubt mir das, Jungs.« Er fuhr sich durchs halblange Haar.
»Sie ist so gewissenhaft, macht Listen, die alle in den Wahnsinn treiben, und so was. Egal was passiert ist, sie steckt sicher in irgendwelchen Schwierigkeiten.« Luke erhob sich, und fischte seinen Hut vom Sessel.
»Ich geh jetzt mal ins Gästehaus rüber. Wir machen uns alle Sorgen. Also bitte, findet sie einfach.«
»Ja, das werden wir.« Julian, von der Eindringlichkeit der Worte ergriffen, nickte entschlossen.
Matt durchquerte mit dem Tellerberg langsam den Raum, ehe er bei der Tür stehenblieb und sich zu Julian umwandte.
»Falls das hilft, wir hatten im Sommer mal so ein Gespräch« Er hielt einen Moment nachdenklich inne.
»Alles über die wilden Collegezeiten und so. Irene unterhielt sich ab und zu mit mir über so was. Wir konnten immer gut miteinander reden«, fügte er ruhig hinzu. Sein Blick warnte Julian davor, keine dummen Kommentare zu schieben.
»Irene erwähnte, dass sie damals zum Wochenende hin immer mit ihrer Freundin Melanie ausgegangen war. In Bluesbars oder zu Jazzfestivals, sowas in der Art. Schätze, früher gefiel ihr Jazz und Blues und jetzt ist es mehr die Countrymusic. Wir ziehen sie gelegentlich damit auf.«
Julian wandte sich fragend an Will. Er war ein wenig verärgert.
»Wer zum Teufel ist Melanie? Und Blues & Jazz, ich meine, wieso weißt du sowas nicht?«
Will winkte ab.
»Ach, Melanie Jenkins ist Irenes beste Freundin. Sie sind seit dem College befreundet. Mel lebt in Pinedale. Etwa zwei Fahrstunden von hier entfernt. Eine ruhige, beschauliche Gegend. Sie besitzt ein kleines Antebellum-Haus. Ihre ehemalige Chefin hat es ihr vermacht. Sie schreibt Bücher und nimmt ab und zu an Pferderennen teil. Aber zurzeit ist sie in Louisiana und passt auf die beiden Kinder ihrer älteren Schwester auf, die sich die Hüfte gebrochen hat. Sonst hätte ich sie schon selbst aufgesucht. Ich hab kurz mit ihr telefoniert, sie hat nichts von Irene gehört. Ich glaube ihr das. Melanie ist ruhig, zurückhaltend und sehr ehrlich. Sie kann sich schwer verstellen. Sie klang ziemlich besorgt und versprach, sich zu melden, falls sich Irene bei ihr rührt.«
Julian nickte.
»Okay, dann geh ich da hoch und schau mal in die zweite Kiste.«
Nachdenklich machte er sich auf den Weg ins Zimmer. Als Matt von Bluesbars gesprochen hatte, hatte bei ihm irgendwas geklingelt.
Er würde sich dieses Foto nochmal genauer ansehen, und dann in der Kiste mit der rosa Decke herumwühlen. Könnte sein, dass sie ihre privaten Erinnerungen genau darin aufbewahrte. Er hatte auch eine Sammlung alter Souvenirs aus seinem Leben.
Oben im Zimmer angekommen, nahm er das Bild umsichtig aus dem Regal und besah es sich ein weiteres Mal.
Während er das alte Foto mit dem neueren von Irene Morris verglich, ging er im Geiste nochmal Matts Aussage durch. Diese Melanie und die Verschwundene waren also öfters in Blues-Bars gewesen, aber studiert hatten sie auf der Missouri Universität, Columbia. War es möglich, dass Irene irgendwo in Missouri war? Stirnrunzelnd überlegte er, wo hier ein Zusammenhang bestehen konnte. Die Irene im blauen Kleid wirkte jedenfalls fröhlich. Scheinbar sang sie und es schien ihr zu gefallen. Aber auch die Irene auf dem neueren Foto schien glücklich zu sein. Braungebrannt lachte sie in die Kamera, die blonden Haare wehten ihr ins Gesicht, und im Hintergrund erkannte er die Berge. Vermutlich stammte das Foto von hier.
»Wo treibst du dich bloß herum, Countrygirl?«, murmelte Julian nachdenklich.
Egal was passiert war, dieses Bild war etwa ein halbes Jahr alt und da war sie auf jeden Fall noch fröhlich gewesen.
Der Grund für ihr Verschwinden lag Julians Meinung nach, immer noch im Tod dieses Randy McLachan. Alle Fäden liefen dort zusammen.
Einer Eingebung folgend, löste er die Klammern vom Bilderrahmen und nahm vorsichtig das Foto heraus. Nach einer weiteren Begutachtung schob er es kurzentschlossen in die Gesäßtasche seiner Jeans, bevor er den leeren Bilderrahmen einfach ins Regal zurücklegte. Sein Blick ruhte einen Augenblick auf der Figur der schwarzen Sängerin. Ob das alles zusammenhing?
Ohne weiter herumzutrödeln, wandte er sich endgültig der Holzkiste zu.
Sie hatte einen Metallverschluss, wie die Schmuckkästchen, doch die hier war nicht versperrt.
Er fand zuoberst ein kleines rosa Buch mit Ponys darauf und schlug es auf. Die Seiten knisterten leicht, als er ein paar davon umblätterte.
Leise las er daraus vor.
»Ich fragte nach einer Blume, doch er gab mir einen Garten. Ich bat um einen Baum, und er gab mir einen Wald. Ich fragte nach einem Fluss, und er gab mir einen Ozean. Ich fragte nach einem Freund, dann gab er mir dich. Vergiss diese Freundschaft nicht. Tristan.«
Um den Namen Tristan herum hatte jemand ein blaues Herz gemalt.
Behutsam legte er eine vertrocknete Lavendelblüte, die herausgefallen war, zwischen den Seiten zurück und schloss das Büchlein wieder. Es war garantiert schon an die fünfzehn Jahre alt, für diesen Fall also nicht relevant.
Unvermutet tauchten Fragmente aus Julians Erinnerung auf.
Rotblonde Shirley Temple-Locken flogen wild um ein helles Gesicht. Lachend über den Waldweg laufend, drehte sich die zierliche Mädchengestalt immer wieder zu Jul um. Er konnte immer noch ihre Stimme hören.
»Komm schon, lauf schneller, sonst sind sie alle weg!« Kaum bezähmbare Ungeduld in der Stimme, das grünweiße Sommerkleid flog ihr um die staksigen Beine. Jeannie.
Gequält schloss er einen Moment die Augen, ehe er das kleine Poesie-Buch hastig unter einen Stoß alter Hefte schob. Es hatte hier sowieso keinen Nutzen. Außerdem konnte er es in diesem Augenblick nicht ertragen, noch weitere dieser unschuldigen Sprüche zu lesen.
Während er versuchte, die unfreiwilligen Erinnerungen aus seinem Kopf zu verbannen, wandte er sich wieder dem restlichen Inhalt der Kiste zu.
Das hier war wichtiger und er musste sich konzentrieren, wenn er Will helfen wollte, diese Irene zu finden.
Die verschiedenen Fotoalben in der Kiste erweckten sein Interesse sofort. Wie Julian gleich bemerken konnte, war Irene sehr genau, denn jedes Album war datiert und beschriftet.
Rasch suchte er sich zwei heraus, die aus ihrer Collegezeit stammen konnten.
Ein Album bestand aus einer Sammlung von Bildern eines New York-Trips mit Freunden. Rasch blätterte er es durch, ehe er es zur Seite legte. Unbeschwerte junge Leute, die sich amüsierten. Nichts Besonderes.
Das Zweite fiel schon durch den Aufkleber auf dem Einband auf. Dieser bestand aus einem Rechteck, oben und unten von einem blauen durchgehenden Streifen gekennzeichnet. Dazwischen, auf dem weißen Feld prangten vier rote Sterne. »Sieh mal einer an.« Julian kniff die Augen zusammen.
Wieso war er nicht eher dahintergekommen? Dieser Aufkleber stellte die Flagge von Chicago dar, darüber hatte jemand in großen, geschwungenen Buchstaben die Überschrift ‚Chicago, the Windy City‘ aufgemalt.
»Na bitte«, zufrieden summte er ein paar Takte von ‚Sweet Home, Chicago‘,während er im Album blätterte.
Ein bunt gemischtes Potpourri aus vielen verschiedenen Ereignissen tat sich vor seinen Augen auf.
Partys, Geburtstage, Stadtausflüge, meistens mit zwei, drei anderen Leuten, die allesamt wie stinknormale Studenten wirkten.
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