Matt erhob sich wieder.
»Ich geh jetzt mal, die Sandwiches sind im Wohnzimmer, also beeilt euch, bevor Luke alle aufisst.« Dann war er weg.
Will blickte Julian stirnrunzelnd an.
»Was sollte denn die dämliche Fragerei? Wolltest du unbedingt eine aufs Auge? Es spielt keine Rolle, ob dieser Matt auf Irene steht, oder ob Randy etwas mit ihr hatte. Is‘ nicht wichtig, Junge. Wir müssen sie einfach nur finden. So lautet der Auftrag, damit das klar ist. Und wenn du mich fragst, deine hinreißende Art und Weise kam soeben ziemlich schief.«
»Na und? Sowas ist wichtig«, verteidigte Julian sich. »Solche Dinge, wie überstürzt zu flüchten, durcheinander zu sein, all das kann mit Gefühlen zu tun haben.« Er zuckte mit den Achseln.
»Starke Gefühle, starke Reaktionen, Mann. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Einen Moment wirkte er nachdenklich, doch dann grinste er plötzlich.
»Außerdem war ich neugierig.«
Im ernsten Tonfall fuhr er fort.
»Sag mal, wusstest du etwas von diesem John Brighton, dem Stadttypen?«
Will grübelte einen Augenblick, ehe er mit den Schultern zuckte.
»Naja, hab irgendwas darüber gehört. Für nähere Infos musst du aber schon Joanne fragen.«
Julian nickte.
»Okay, mal sehen, scheint allerdings nicht mehr wichtig, aber ich werd ihn mir trotzdem mal merken. Ist Irene damals, als ihr Onkel starb, auch davon gelaufen?«
»Hm, nein, das war anders. Sie war am Boden zerstört. Ihr Onkel war ihr ein und alles, musst du wissen. Ihr Held, er hatte einiges erlebt, war Ende der Sechziger sogar in Australien unterwegs gewesen, als Wanderschmied und Ranchhilfsarbeiter und so ein Zeugs. Ein waschechter Abenteurer. Schätze, sie ist ihm ähnlicher als man glaubt. Ihre Eltern wollten immer nur, dass sie wieder zurück kommt, doch sie hatte bereits hier ein Zuhause. Europa war nicht mehr ihr Ding. Hab keine Ahnung wieso, aber Ethan hat sie hier aufgenommen. Sie war irgendwie sein Liebling, und dann, als er starb, war sie fix und fertig.«
Will rieb sich abwesend am Kinn.
»Sie, ähm, hatte Hilfe. Also nach Ethans Tod kam eine Zeitlang so ein Typ hierher auf die Ranch. Eigentlich ein feiner Doktor aus Cedars. Er, sagen wir mal, hat ihr eine Weile beigestanden. Der war eine halbe Rothaut, hat aber in Alberta studiert. Du weißt schon, so ein Psychoheini.«
»Schätze du meinst einen Seelenklempner«, sagte Julian trocken, ehe er tief durchatmete.
»Abgesehen davon, dass du mir dieses winzige Detail verschwiegen hast, was sagt dir das? Ihr Onkel an dem ihr Herz hängt, stirbt, sie bleibt, hat einen Nervenzusammenbruch, sie bleibt noch immer. Und jetzt, wo ihr ‚Kumpel‘ tot ist, haut sie einfach so ab? Findest du das nicht seltsam?«
Nachdenklich kratzte sich Will am Kopf. Der Junge hatte recht.
»Naja, ein bisschen komisch is‘ das schon.«
Will seufzte ergeben.
»Okay, Meisterdetektiv, was sagt dir dein Bauchgefühl?«
Julian hatte sich schon seine Theorie zusammengesponnen.
»Ich denke, die hatten vielleicht doch was am Laufen. Womöglich eine kleine Ablenkung, nach ihrem Liebeskummer wegen dem Stadttypen. Selbst eine Frau wie Irene kann mal aus der Rolle fallen, sie ist ja auch nur ein Mensch.«
Will musterte Julian skeptisch.
»Weiß nicht so recht, Irene ist so ‚ne Ruhige. Die macht sowas nicht. Passt nicht zu ihr, finde ich.«
Julian seufzte schwer.
»John Wayne aka Matt, der grimmige Cowboy hat gesagt, dass Randy ab letzten Sommer hier herumhing, also muss zu dem Zeitpunkt etwas vorgefallen sein. Da niemand etwas von einer prickelnden Beziehung gemerkt hat, bedeutet das für mich: Er wollte mehr, sie nicht, er starb, sie ist damit nicht klargekommen und erstmal abgehauen.« Schulterzuckend wandte er sich zur Tür.
»Große Gefühle, Mann. Schuldgefühle sind große Gefühle, okay? Kann ja sein, dass sie Abstand gewinnen wollte, um nachzudenken, was auch immer. Das hat todsicher mit diesem Randy zu tun, darauf verwette ich meine Lederjacke.« Danach ging Julian aus dem Zimmer und ließ einen grüblerischen Will zurück.
»Jaja, du Schlaumeier mit deiner ach so tollen Lederjacke, geh du nur fressen«, grummelte er unwillig.
Dennoch folgte er ihm kurz darauf. Immerhin, sie hatten stundenlang in diesem Zimmer verbracht, ohne den geringsten Hinweis auf etwas zu finden, das ihnen weiterhelfen konnte. Da würden ein, zwei Sandwiches dazwischen auch nicht schaden.
Als Julian über die Galerie des Hauses nach unten ging, bemerkte er sofort die angenehme Wärme des Kaminfeuers.
Luke, der Vorarbeiter von Joanne, reichte ihm ein Bier.
Dankbar nahm Julian es entgegen und trank einen Schluck, während er darüber nachgrübelte, wie sie weiter vorgehen könnten. Der Fernseher lief, doch niemand schaute tatsächlich hin.
Gedankenverloren starrte Julian in die Flammen.
An einem solch kalten Apriltag wie heute war er heilfroh, nicht mehr ständig auf Achse zu sein, so wie früher. Ja, früher, da war alles anders gewesen. Kalte, unpersönliche Motelzimmer, raue Bars und wilde Typen, all das lag längst hinter ihm, doch auch in seinem kleinen Wohnwagen fehlte die familiäre Wärme, die hier aus allen Winkeln strömte.
Rasch schob er die sich ihm aufdrängenden Bilder zur Seite. Die Vergangenheit war im Moment nicht wichtig. Es gab in der Gegenwart genügend zu tun. Erneut biss er in sein Schinkensandwich und konnte nicht umhin, festzustellen, wie hervorragend Matt sie zubereitet hatte. Selbst Will und Luke Daniels, der Vorarbeiter von Joanne Holmes, konnten nicht genug davon bekommen. Die beiden unterhielten sich gedämpft. Soweit Julian erkennen konnte, ging es um die Niederschläge und das extrem kühle Wetter, das so gar nicht zum Frühling passen wollte. Matt indessen, schien das große Schweigen perfektioniert zu haben, doch dann überraschte er ihn.
»Was wollt ihr als Nächstes tun?«, er sprach Julian direkt an, während er gleichzeitig die Teller auf einen Stapel zusammenstellte.
Erstaunt sah Julian auf.
»Nun, erstmal die zweite Kiste aufmachen«, meinte er gelassen. Er wusste nach wie vor nicht, wonach er suchen sollte, doch da musste es etwas geben, irgendeinen kleinen Hinweis, den sie bisher übersehen hatten. Ihm fiel das Bild mit der Bar und dem Abendkleid ein.
Einer Eingebung folgend, wandte er sich direkt an Will.
»Was trieb Irene eigentlich so am College. Sie war doch auf dem College, oder?«
Will rieb sich über das Kinn.
»Klar war sie das, nur fällt mir im Moment nicht ein, wo.«
Luke, der sich bisher still verhalten hatte, räusperte sich hörbar.
»Missouri-Universität, Columbia, Journalismus und Landwirtschaft.«
Erstaunt blickte Julian den etwa fünfzigjährigen Vorarbeiter von der Holmestead Farm an. Bisher hatte der Typ keinen einzigen Ton in Bezug auf Irene Morris von sich gegeben.
»Okay, danke. Kennen Sie Irene gut?«
Luke nickte.
»Klar, seit sie ein kleines Ding mit blonden Zöpfen und verrückten Ideen war. Sie war immer schon wild mit Pferden. Es liegt an ihrer Art, sie hat einfach ein Händchen für diese Tiere. Meistens kam sie in den Ferien hierher, und stellte alles auf den Kopf. Tja, zwei -dreimal musste ich ihr aus der Klemme helfen.« Er lächelte wage.
»Naja, sie war - IST manchesmal ein wenig waghalsig. Wilde Pferde, verrückte überzüchtete Gäule und all so was. Sie nimmt alle. Ethan wusste, dass sie Ahnung und Gespür für die Tiere hat, ihr Onkel ließ ihr vieles durchgehen, er liebte sie sehr.« Er kratzte sich am Kopf.
»Alle hier haben sie gerne«, meinte er fast verlegen.
Will nickte.
»Ja, ich weiß. Ich mag sie auch, hab sie leider nur wenig gesehen. War in den letzten Jahren nicht mehr so oft in der Gegend.«
Julian zog verwundert die Augenbrauen hoch. Erstens gab Will erneut zu, jemanden zu mögen, und zweitens schien er oft hiergewesen zu sein. Davon hatte er nie etwas gehört, obwohl Will praktisch sein Ersatzvater war und er die letzten Jahre bei ihm gelebt hatte.
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