1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Fisch, Brot, Bier und Wodka, Wodka, Bier, Brot und Fisch. Die langen und die kurzen Stopps. Die Mütterchen, die mit dem Verkauf von Obst und Gemüse, weißem Fladenbrot und hochprozentig Selbstgebranntem, mit zuckerstarker Marmelade, mit Eingelegtem, Frittiertem, Gebratenem und Gebackenem ein paar Kopeken in die Schürze plumpsen lassen. Die strengen Zugbegleiterinnen, Kelle in der Hand, Trillerpfeife im Mund, die Wohlgesonnenen über Nacht alles besorgen können, auch ein Frühstücksei und Erdbeerkonfitüre, nur kein Lächeln. Die Bahnmänner mit ihren gegerbten sorgenfaltigen Gesichtern, die vom Samowar bis zur Kupplung alles reparieren können. Ein Leben in vierzehn Zeitzonen, sieben hin und sieben zurück. Ein Leben von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, alles komprimiert in einer einzigen Zeitzone, denn Moskau ist überall.
Da steht er jetzt, der Fremde, und er friert. Das neue Jahr hat für ihn mit Eis auf Knochen begonnen. Dagegen gibt es den Wodka, mein Freund. Alkohol hilft. Schau nach links, dort liegt der erste letzte tote rote Zar, Wladimir Iljitsch Uljanow, konserviert in Alkohol. Schau nach rechts zum teuersten Kaufhaus der Stadt. Dort bekommst du den besten Sprit in rauen Mengen, und jede Flasche kostet vielleicht mehr, als deine Börse hergeben mag, sofern sie dir nicht gerade gestohlen wurde. Vergiss die falschen wertlosen Rubel, die man die gerade andrehen wollte. Hier gilt nur richtiges Geld.
Vielleicht ist heute dein Glückstag, Fremder, auch wenn du das jetzt anders sieht. Gut, diese Legoland-Basilika in deinem Rücken ist eingerüstet und gibt kein gutes Fotomotiv her. Und ja, man wollte dich übers Ohr hauen. Und es schneit, und dir ist kalt. Und du bist allein. Niemand sollte an einem Tag wie diesem allein sein. Aber du stehst hier, fremder Mann, eine schöne Kamera in deiner Hand, du scheinst gesund zu sein, und der Winter geht vorbei. Das verspreche ich dir. Du hast noch Geld, und so, wie du aussiehst, hast du noch eine gut bezahlte Arbeit, sonst wärst du wohl nicht hier. Wo kommst du her? Amerika, Deutschland, Frankreich, Italien, England, Australien? Egal, du sprichst unsere Sprache nicht, und selbst wenn du sie sprechen würdest, du könntest uns nicht verstehen. Aber du hast Glück, es ist Neujahr, und alles ist möglich. Und wenn du nett bist, lade ich dich vielleicht sogar zu einem Kaffee ein. Zu einem richtigen Kaffee, so einen dunklen starken süßen. Mit ein, zwei Gläschen Wodka und den besten Wünschen.
Ich glaube, dass Fernão ziemlich blauäugig war, als er den Kapitänen eine Rückzugsmöglichkeit angeboten hat. Er wusste zwar, dass es für eine Umkehr eigentlich zu spät war, schließlich befand sich das Geschwader eine Erdlänge, viele Flauten und noch mehr Stürme entfernt vom Heimathafen. Er setzte wohl darauf, dass sich diese Einsicht auch seinen Gefolgsleuten einleuchten musste. Doch hatte es inzwischen eine Hungersnot, eine Meuterei, zwei Hinrichtungen und jede Menge Trübsal gegeben. Die Stimmung hatte sich seither kaum gebessert, die Unzufriedenheit der Mannschaft war ein Pulverfass, das vielleicht einzig Trockene weit und breit.
Trotzdem wagten niemand unter den Offizieren Widerspruch, mit einer Ausnahme. Estevão Gómez, inzwischen Pilot der San Antonio, empfahl eine Umkehr nach Spanien. Doch er wurde überstimmt, wohl auch in der Hoffnung, dass es jetzt nach der Entdeckung des Paso vielleicht doch noch eine reelle Chance auf Ruhm und Reichtum gab. Uns allen war aber auch klar, dass die Passage ein Wagnis bedeutete, hier in diesen unberechenbaren Breiten, zudem die uns bevor liegende Strecke sich weit zu verzweigen schien. Fernão schickte ein Boot und zwei der vier Schiffe zur Erkundung vor. Dann kam von der Bootsbesatzung die Kunde, dass sich im Nordwesten des Wasserwegs ein Ausgang hin zum Südmeer befand. Die eigentlich gute Nachricht wurde getrübt durch den Umstand, dass von der Erkundungsfahrt nur noch die Concepción mit Serrano zurückkehrte. Auf der San Antonio war eine Meuterei ausgebrochen, den Kapitän Álvaro de Mezquita hatte man gefangengenommen.
Ein ungewöhnlich kalter Wind fegt durch die Gassen der Altstadt. Via Dolorosa, der Leidensweg. Die Fernseher laufen in den Hinterstuben und zeigen den Papst, der um Frieden in der Welt fleht. Das ist sein Job. Ob er daran glaubt? Das ist sein Beruf. Der Papst ist weit. Neujahr ist weit. Neujahr, shana tova, das ist Rosch Haschana im Herbst. Wo ist die Fernbedienung?
Es ist leer im Heiligen Land, und es ist Alltag in der heiligen Stadt. Ein ganz normaler Tag. Kein Feuerwerk, keine Partys. Arbeit, Schule, Handel, Missgunst, Neid, Hass, alles wie gehabt. Aber es ist ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit. Jetzt, im Winter, wenn die Sonne ohnehin tiefer steht, sind viele Wege von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in lange Schatten getaucht. Das liegt an den hohen Mauern, an den engen Wegen, an den Tunnels und Unterführungen. Das hier ist ein Labyrinth, und wer Orientierung wünscht, sollte schon auf ein Dach steigen. Selbst von dort erhält man nur einen groben Überblick. Ein weißes, graues, ockerfarbenes Meer aus Stein, unterbrochen nur durch einige Inseln. Die auffälligste ist die goldene Kuppel der Al Aqsa Moschee. Dann die Türme einiger Kirchen, Silberkuppeln, weiße Minarette. Oben ist es still, unten raunen und rufen die Straßenhändler. Eine Menora auf einer Mauer, eine verschleierte Muslimin huscht schnell vorbei. Im Tunnel vor der Klagemauer steht ein Metalldetektor, Soldaten kontrollieren die Passanten.
Licht erst nach dem Damaskus-Tor. Mildes Winterlicht, kalte Luft. Es sind Steinwürfe vom Ölberg zum Internetcafé zu Yad Vashem zu Me‘a She‘arim. Väter mit Söhnen und Mütter mit Töchtern aus den Gassen Richtung Boulevard. Es scheint, als überschreiten sie eine unsichtbare Grenze. An den Mauern Plakate, nicht zu groß, nicht zu klein, und doch auffällig. Gelb, weiß, orange: Keep your neighborhood holy. The Torah obligates every Jewish Daughter to DRESS MODESTLY which includes: Long sleeves, long dress. To pass through our neighborhood imodestly dressed is forbidden.
E s gibt kein Lächeln in Me‘a She’arim, nicht jetzt. Aber es gibt auch niemanden, der sich erzürnt. Das Dorf in der Stadt mit seinen festungsartigen Mauern, den schmalen Treppen, den engen Hinterhöfen und den improvisierten Dächern wirkt wie ausgestorben.
In dieser Stadt gibt es vier Zeitzonen. Eine jüdische, eine islamische, eine christliche, eine armenische. Und es gibt zwei Jahreszeiten. Eine reicht von der Antike bis zum Mittelalter, die andere reicht von der Glasbeton-Moderne bis zum grotesk hohen Schutzwall gegen das Westjordanland, von den Einschusslöchern aus dem Sechstagekrieg bis zu den Soldaten mit ihren geschulterten Gewehren. Frohes neues Jahr. Shana tova.
Seit Wochen Ruhe am Himmel. Keine Bomben, keine Explosionen, nur Wolken und eine ungewohnte Kälte, ein scharfer Wind. Wenn das Fernsehbild flimmert, ist es eine Drohne. Wenn es rauscht, dann brummt, dann kreischt, ist es eine F 16. Doch wie gesagt, seit Wochen nichts.
Eine Sandbüchse, mit Steinen durchsiebt, so groß wie Malta, halb so groß wie Hamburg, vierzig Kilometer lang, zwischen sechs und vierzehn Kilometer breit. Im Westen das kalte Meer, im Osten Zaun und Stacheldraht, wir dazwischen, gefangen im Staub. Das ist meine Heimat. Seit die Tunnel dicht sind, läuft nichts mehr. Durch die Tunnel kam alles, was wir zum Leben brauchten. Öl und Benzin und Lebensmittel und Baumaterial. Damit ist jetzt Schluss. Meine Eltern sagen, ich soll heiraten, sehr bald, und Kinder zeugen, bald. Damit wir eines Tages mehr sind als sie. Sie, das sind die hinter dem Zaun und dem Stacheldraht, die mit den Drohnen und den F 16. Ich bin noch nicht einmal neunzehn, ich bin zu jung, um für Mehrheiten zu sorgen, und die dort drüben kenne ich nicht.
Читать дальше