Was den Mann, der hier am Strand zwischen Mellons Bay und Moon Bay spazieren geht, dabei einen jungen Mann beobachtend, der mit einem schwarzgelockten Hund über den Sand tollt, dazu den Hund selbst und einen in der Ferne geparkten himmelblauen Ford Anglia wahrnehmend, was diesen Mann also zusätzlich verwirrt, sind viele Dinge, die zumindest auf den ersten Blick nicht in sein festgefügtes Bild passen wollen. Da ist zum einen die Tatsache, dass die Sonne über Howick zwar wie gewohnt morgens im Osten aufgeht und sich abends im Westen gen Horizont senkt, um schließlich gänzlich dahinter zu verschwinden und die dunkle Tageszeit anzukündigen, dass sie sich mittags jedoch im Norden blicken lässt und nicht gemäß durch in irgendeinem Gesetz festgeschriebener Umlaufbahn im Süden seiner und aller hier anwesenden Menschen Blicke. Zum zweiten hat diese Metropole, zu dem diese biedere flachen Vorstadtidylle gehört, gleich zwei Küsten, die einander auch noch zum Verwechseln ähnlich sehen, eine im Westen, eine im Osten. Im Westen, dort wo die Sonne wie durch eine glückliche Fügung immer noch untergeht, liegt der Manukau Harbour, eine Bucht, die sich zur Tasmansee hin öffnet. Hier im Osten, wo gottlob immer noch die Sonne den Tag begrüßt, schimmert der Hauraki-Golf als Teil des großen Ganzen, des Pazifischen Ozeans. Von hier bis Honolulu ist nur Wasser, und von dort bis Bondi Beach ist nur Wasser. Zum anderen verwirrt ihn nun mit der heraufziehenden Nacht das Sternenbild, das sich deutlich von dem vertrauten Bild abhebt, welches er von zuhause aus kennen und schätzen gelernt hat. Und zu Hause, das liegt von hier aus betrachtet auf der anderen Seite der mehr oder minder leicht deformierten Kugel. Im Zentrum dieses Sternenhimmels, inmitten der Milchstraße, leuchtet blass eine Vierergruppe galaktischer Daseinsformen, das Kreuz des Südens, das auch die Flagge dieses Insellandes ziert. Eigenartig: Zur Zeit der alten Griechen war das Kreuz noch über dem Mittelmeer erkennbar gewesen, doch die eiernde Drift der Erde hatte die schimmernde Raute von der nördlichen Hemisphäre verbannt. Und die alten Griechen waren längst Geschichte.
Und dann gibt es noch ein paar irritierende Dinge, die den Mann, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand ist, nach Orientierung suchen lassen. Dieser himmelblaue fahrerlose Ford Anglia parkt auf der linken, ihm zugewandten Strandseite. Alle Autos hier fahren oder vielmehr werden gefahren, wenn sie denn nicht geparkt werden, auf der linken Straßenseite, unterbrochen nur durch die kurzen Phasen des Überholvorgangs, was natürlich nicht auf die geparkt wordenden Fahrzeuge zutrifft. Diese Tatsache, dazu die seltsame Sonnenwanderung, der falsche Sternenhimmel und die Erkenntnis, dass in diesen Breiten Farne hünenhafte Bäume sind, Vulkane harmlos erloschen und das Wappentier einen seltenen nachtaktiven flugunfähigen Vogel darstellt, lassen im Kopf des Mannes, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand ist, eine gewisse Konfusion zu Tage treten, auch wenn es bald dämmern und dann die Nacht hereinbrechen wird, nach vierzehneinhalb Sonnenstunden, vor Sonnenuntergang eine Viertelstunde vor einundzwanzig Uhr Ortszeit. Und ja, das hier schmeckt, duftet, fühlt sich an wie Sommer, wie Sommer im Winter, denn auf der anderen Seite der Welt, also dort, wo der Mann, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand ist, daheim ist, auf der oberen Hälfte der mehr oder minder leicht deformierten Kugel, sofern man mit Fug und mit Recht überhaupt von einer oberen Hälfte sprechen kann, schließlich ist das eine Sache des Standpunkts und der Blickrichtung, dort also ist jetzt Winter, die kalte Jahreszeit mit Schnee und Eis, Sturm und kaltem Regen. Hier, auf dieser Seite der Welt, also dort, wo der Mann, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand und nicht daheim ist, auf der unteren Hälfte der mehr oder minder leicht deformierten Kugel, hier ist jetzt Sommer mit wohlig warmen Temperaturen und einer Tageshitze, die sowohl eine milde Brise als auch ein kühles Bier als Bereicherungen des gegenwärtigen täglichen Lebens wahrnehmbar werden lassen. Und wo oben Frühling ist, ist unten Herbst und umgekehrt. Die Welt ist ein Spiegel.
Auf dem Weg hierher von Honolulu kommend hat er einen ganzen Tag verloren. Es war kurz vor Weihnachten, ein Weihnachten ohne Heiligen Abend, er hatte im Flugzeug sitzend die Datumsgrenze überquert, ein Akt, der körperlich nicht spürbar und geistig kaum wahrzunehmen war, zumindest dann nicht, wenn man, wie er auf dem Nachtflug, ganz einfach die Zeit verschlafen hatte. Aber er weiß, wenn er jetzt zurück flöge, zurück nach Honolulu oder Los Angeles oder New York oder London oder Berlin, er würde einen ganzen Tag gewinnen, er würde einen Tag zurückgewinnen, den er vorher verloren hatte, aber nicht den gleichen Tag, schon gar nicht denselben Tag. Er würde also streng genommen keinen Tag zurückgewinnen, sondern einen Tag dazugewinnen, er würde einen Tag zweimal erleben, er könnte zweimal Neujahr feiern. Der Januar hätte so zweiunddreißig Tage, während sein Dezember nur einunddreißig Tage hatte, er hätte ein kurzes altes Jahr hinter sich und ein langes neues vor sich. Das alles trifft allerdings nur dann zu, wenn er sich für die Ostroute entscheiden würde, also für die Richtung, aus der er gekommen war, einmal quer über den Pazifik mit Zwischenlandung mitten in der Nacht auf der Piste von Nadi bei strömendem Regen, den er allerdings nicht spürte, da er in der Transithalle des Flughafens festsaß.
Würde er hingegen die Westroute wählen, also über Singapur und Frankfurt am Main und New York und Los Angeles zurück in die alte Welt fliegen oder vielmehr geflogen werden, ja dann sähe das alles wieder ganz anders aus. Die Welt ist ein Spiegel, und ein Spiegel war und ist und wird immer sein auch ein Zerrbild, denn links ist rechts und umgekehrt, so wie jetzt oben unten ist und Winter Sommer, und die Zeit ist linear, und seltsamerweise lässt sich die Zeit auch dann noch zurückdrehen, wenn sie gleichzeitig fort schreitet.
Es wird dunkel, und der junge Mann mit dem tollenden Hund und der vormals himmelblaue, jetzt sicherlich dunkle Ford Anglia sind verschwunden. Er braucht jetzt Zeit, um das alles zu verdauen. Zeit und Ruhe. In drei Stunden wird das Feuerwerk über dem Manukau Harbour zünden, die Böller werden mit einigem Getöse am nachtschwarzen Himmel explodieren und die Ruhe, nach der er sich jetzt so sehr sehnt, für einige Zeit vertreiben. Wenigstens das hat sich nicht geändert.
Fernãos Vater war Bürgermeister in Sabrosa, er verlor seine Eltern, als er zehn Jahre alt war. Fernão hatte zwei Brüder und eine Schwester, doch das alles erzähle ich nur, um zu beweisen, dass der junge Mann schon früh Verantwortung übernehmen musste, für sich und für andere. Im Jahr, da einer meiner Landsleute glaubte, den kürzesten Seeweg nach Indien entdeckt zu haben, kam Fernão als Page an den Hof des Königs von Lusitanien, damals noch Dom João II, der strenge, der vollkommene Fürst aus dem Hause Avis, dreizehnter Monarch im Land zwischen Minho und Cabo de São Vicente. Aus dem Bauernjungen wurde ein Page wurde ein Knappe, ein stattlicher und gebildeter noch herzu, und bald schon erhielt er Gelegenheit, sich auszuzeichnen. An der Seite des Vizekönigs nahm Fernão an einer Expedition nach Indien teil. Dort wurde er zum Lebensretter und Hüter der Ordnung, als er eine Meuterei verhinderte. Nach der Eroberung von Malacca, an der Fernão gewiss seinen Anteil hatte, wurde der Einunddreißigjährige bei einer Expedition zu den Gewürzinseln zum Kapitän ernannt, eine Ehre, die er leichtfertig aufs Spiel setzte, als er seine Mannen ohne Order und in aller Heimlichkeit weiter gen Osten segeln ließ.
Fernão und ich sind gleichaltrige Gleichgesinnte, und doch sind wir so verschieden wie es zwei Menschen mit dem Drang nach Wissen und der Sehnsucht nach Würde, Wohlwollen, Ruhm und Ehre nur sein können. Mein portugiesischer Freund war ein Haudegen, der in der Schlacht von Azamor verwundet wurde und gegen alle Gepflogenheiten und wider aller gültigen Gesetze Handel mit den Mauren trieb. Fernão, der Söldner, Fernão, der Seefahrer, der Welteneroberer, der ungestüme Haudegen zwischen der Gnade des Herrn und der Unbill der Herrschenden, der Ikarus der Weltmeere und der in Ungnade gefallene Nomade, es war ihm gleich, unter welcher Krone er sein Säckel füllen konnte. Und so bot er seine Dienste eben jenem Kaiser Karl an, der vom spanischen Monarchen zum obersten Feldherrn des römischen Reichs wurde. Ich aber bin nichts weiter als ein bescheidener Chronist, ein Zeuge der Zeit, von Bill und Unbill zwischen Pol und Äquator, ein Getriebener der Längen- und der Breitengrade. Ich bin kein Mann des Degens, ich bin ein Mann der Feder. Ein Mann der Wissenschaft, der Künste, ein Geschöpf und ein Schöpfer der Mathematik, die Schrift in der Hand, das Universum im Blick und den Zweifel im Kopf. Und schon darum hege ich berechtigte Ungläubigkeit, ob ich mein geliebtes Vizenca je wiedersehen werde. Schönes reiches Vicenza, Wiege meiner Jugend. So fern scheint mir Venetien, dass es mir hier in der glühenden Sonne des Südens das Hirn martert mit unerreichbaren Visionen, Bildern aus einer wohlvertrauten Welt, in der oben noch oben ist und das Leben ein Fest. Ach, es regnet bitteres Salz vom Himmel! Gottes Tränen!
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