«Sofern Koinonia-Realisierung prinzipiell als ein opus dei begriffen wird, ist sie die Bewegung des Geistes Christi, von dem gilt, dass er Einheit ist (1Kor 12; Eph 4). Wird die Realisierung der Koinonia als ein opus hominum verstanden, muss die Vielfalt der Bewegungen Thema werden. Für die Theorie des Gemeindeaufbaus ist diese Würdigung der Pluralität der Gestalten unter Wahrung der Einheit ihres Grundes die zentrale Entscheidung, die die Grundlage bildet für die Reflexion der Gemeinschaftsbildung.»[581]
Hier könnte weiter gefragt werden, ob von 1Kor 12–14 her nicht nur die Einheit, sondern auch die Vielheit auf ein opus Dei zurückzuführen ist. Sie wäre dann nicht nur Folge der conditio humana , sondern als Ausdruck des charismatischen Geistwirkens zu qualifizieren. Die Vielfalt, an der jeder konziliaren Gemeindetheorie besonders gelegen ist, würde dadurch einerseits auf das Christusbekenntnis als dem Kriterium, Ziel und einenden Punkt der Geistmanifestationen beziehbar (1Kor 12,2), andererseits auf den gemeinsamen Gottesdienst als dem originären Ort, an dem sich der Geist in der Vielfalt der Charismen konkretisiert, Oikodome und Koinonia wirkt (vgl. 1Kor 14,23.26).[582]
3.5 Fritz und Christian A. Schwarz: Gemeindeaufbau als Charismatik
Die Konzeptionen und Programme, die sich einem missionarisch-evangelistischen Gemeindeaufbau-Ansatz zuordnen lassen, sind von Anfang an durch eine Rezeption der paulinischen Charismenlehre gekennzeichnet. Der Entdeckung, Förderung und dem Einsatz der Charismen möglichst vieler engagierter Gemeindeglieder kommt eine zentrale Bedeutung zu.[583]
Bereits die 22 «Thesen zur missionierenden Kirche», die die lutherische Generalsynode 1958 in Berlin-Spandau verabschiedete und die als «Spandauer Thesen» bekannt wurden,[584] propagierten als Leitbild «die missionarisch ausgerichtete, in allen ihren Gliedern tätige, überschaubare und gegliederte Gemeinde»[585]. Die Thesen nahmen Impulse der Haushalterschaftsbewegung auf, die möglichst viele Gemeindeglieder nach 1Petr 4,10 zum verantwortlichen Einsatz ihrer von Gott gegebenen Gaben (z.B. Zeit, Kraft, Geld und Begabung) ermutigen wollte.[586] Die 14. These betont nachdrücklich die Notwendigkeit, die charismatischen Begabungen der Gemeindeglieder «zu entdecken und in den Dienst zu stellen»[587].
Nachdem es in den Jahren nach den Spandauer Thesen zunächst «still um den missionarischen Gemeindeaufbau»[588] geworden war, kam Ende der 70er Jahre eine «neue Diskussion um den Gemeindeaufbau»[589] auf, die in den 80er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Das Buch des württembergischen Prälaten und späteren Landesbischofs Theo Sorg «Wie wird die Kirche neu» (1977) steht am Anfang einer wachsenden Zahl von Entwürfen und Konzepten zum missionarischen Gemeindeaufbau. Dabei tauchen die Grundlinien von Sorgs Buch «in mehr oder minder veränderter Form in etlichen Veröffentlichungen zum missionarischen Gemeindeaufbau der folgenden Jahre immer wieder auf»[590]. Dies gilt nicht zuletzt für die «Wiederentdeckung der Gemeinde als charismatische Wirklichkeit»[591]. Sie bildet für Sorg zusammen mit dem «Ernstmachen mit der biblisch-reformatorischen Erkenntnis des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden»[592] den Ansatzpunkt des Gemeindeaufbaus. Wirklichkeit wird beides zunächst in kleinen geistlichen Zellen und von dort aus in der Gesamtgemeinde.[593]
«In diesen verbindlichen, bruderschaftlichen Hausgemeinden und Dienstgruppen wird sich heute am klarsten und überzeugendsten die neutestamentliche Wirklichkeit vom Leibe Christi und seinen Organen (1.Kor 12), die ‹charismatische Gemeinde›, darstellen und bewähren können. Diese geistliche Zellenarbeit kann zugleich das Ende des Ein-Mann-Systems in der Kirche bedeuten.»[594]
In einer ähnlichen Weise nimmt auch die «Theologie des Gemeindeaufbaus» von Fritz und Christian A. Schwarz ihren Ausgangspunkt in der «Ekklesia», die sich in ganzheitlichen Gemeinschaften geistlichen Lebens zum Hören und Beten, Feiern und Arbeiten zusammenfindet. Die paulinische Charismenlehre spielt in diesem Entwurf eine zentrale Rolle, so dass die Autoren die Gleichung aufstellen können: «Gemeindeaufbau ist Charismatik, nichts als Charismatik»[595] (→ 3.5.2). Christian A. Schwarz entwirft einen «Gabentest», der sich als wichtiges Hilfsmittel zur Entdeckung der je eigenen charismatischen Begabung und als Ausgangspunkt aller oikodomischen Strategien versteht (→ 3.5.3). Später entwickelt er den Ansatz der «Theologie des Gemeindeaufbaus» zur «gemeindekybernetischen Strategie» bzw. «Natürlichen Gemeindeentwicklung» weiter (→ 3.5.4), hält dabei aber an der Zentralstellung der Charismatik fest. «Gabenorientierte Mitarbeiterschaft» wird von ihm zu einem der acht Basisprinzipien wachsender Gemeinden erhoben.
Die oikodomische Konzeption und das Charismenverständnis von Fritz und Christian A. Schwarz können nur auf dem Hintergrund der nordamerikanischen Church-Growth-Bewegung verstanden werden (→ 3.5.1).[596] Beide Autoren, vor allem aber der jüngere, sind von ihr entscheidend beeinflusst worden, sowohl in der Zielsetzung wie auch in der Methodik des Gemeindeaufbaus. Die Darstellung setzt daher bei Donald A. McGavran, dem «Vater» des Church-Growth-Movements ein (→ 3.5.1.1). Sein pragmatisch-ethischer Ansatz wird von C. Peter Wagner übernommen, dessen Verständnis der «geistlichen Gaben» einen kaum zu überschätzenden Einfluss nicht nur auf Christian A. Schwarz, sondern bis heute auf weite Teile der Christenheit hat (→ 3.5.1.2). «NETWORK», das Gemeindeseminar der Willow Creek Community Church, das auf die Entdeckung und den Einsatz der Charismen möglichst vieler Gemeindeglieder zielt,[597] basiert im Wesentlichen auf C. Peter Wagners Arbeiten. Die Materialien sind weltweit im Einsatz, erschienen u.a. in deutscher Übersetzung («D.I.E.N.S.T.») und erfuhren bereits eine Adaption, die der landeskirchlichen Situation in Deutschland gerecht zu werden sucht («M.A.R.P.»).[598]
3.5.1 Hintergrund: Die amerikanische Church-Growth-Bewegung
3.5.1.1 Donald A. McGavran und der pragmatische Ansatz
Der ehemalige Indienmissionar Donald A. McGavran gilt als der «Vater» des Church-Growth-Movements. Nicht nur seine zahlreichen Veröffentlichungen,[599] sondern auch das von ihm gegründete und lange Zeit geleitete «Institute of Church Growth» am «Northwest Christian College» in Eugene (Oregon), später am «Fuller Theological Seminary» in Pasadena (Kalifornien), prägt die weltweite Gemeindewachstumsbewegung bis heute. Kennzeichnend für McGavran ist der pragmatische Ansatz:[600] Gemeindewachstum ist messbar und planbar. Durch empirische Erhebung der zahlenmäßigen Entwicklung von Gemeindemitgliedern werden effektive Evangelisationsmethoden ermittelt, deren konsequente Anwendung zusammen mit der Beachtung weltweit gültiger Prinzipien zum Erfolg führen soll. Das Verhältnis von menschlichem Tun und Wirken des Geistes wird in den ersten Veröffentlichungen kaum thematisiert und erst später mit Verweis auf 1Kor 3,6 im Sinne einer «beautiful combination of God and man»[601] zu lösen versucht. Geist und Methode stehen für McGavran ebenso wenig im Widerspruch wie die beiden Maximen «Church growth occurs when Christians work hard»[602] und «Only God, not human forces, builds the church.»[603] Die Analyse der effektiven Methoden solle zu der Erkenntnis führen, welche Wege Gott gegenwärtig segnet.[604] Daher rechtfertige das Vertrauen auf das Wirken des Geistes keinen untätigen Fatalismus, vielmehr gelte: «We must act as though we alone were responsible and pray as though God alone were responsible»[605].
McGavran spricht der Einbindung der Laien höchste Bedeutung für das Gemeindewachstum zu und sieht in der Entdeckung und dem Gebrauch der geistlichen Gaben «an essential ingredient to a healthy, growing church»[606]. Dennoch stellt er die Charismenlehre nicht ins Zentrum seiner Überlegungen. Darin unterscheidet er sich grundsätzlich von C. Peter Wagner, der nach McGavran Leiter des «Institute of Church Growth» wurde.
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