„Da du es an dem nötigen Ernst mangeln lässt, fasse ich meine beiden Hauptargumente für dich leichtverständlich zusammen: Erstens rührt deine Unsicherheit von deiner wankenden weltanschaulichen Basis, die nun nicht mehr ausreicht, die Wirklichkeit zu verstehen. Zweitens bin ich ganz entschieden davon überzeugt, dass dich eine Trennung von deinen menschlichen und heimatlichen Bindungen noch weniger zu dir selbst führen würde.“
„Wirklich erstaunlich, wie einfach alles ist“, sagte ich mit einem bitteren Unterton. „Was weiß ich, was hier alles zusammenkommt. Meine Abenteuerlust, der Drang, aus dem Gleichmaß, das vor allem Mittelmaß ist, heraus zu gelangen und mal was Großes zu machen, etwas, wovon man wieder leben kann. Vielleicht wollte man es gar nicht, wenn es einem nicht durch eine Reihe lächerlicher Gesetze und Vorschriften verboten wäre.“
„Vielleicht ist es tatsächlich eine Charakterfrage“, erwiderte Thomas. „Vielleicht bin ich mehr ein Ackerbauer und du ein Nomade.“
Der Abstieg hatte uns an der Skihütte und an der ehemaligen Sprungschanze vorbei weiter über die Wiesen, die im Winter als Skigelände genutzt werden, hinunter geführt. Die Masten des Schleppliftes standen finster, verlassen und untätig am Berg.
Wir wandten uns nach links zur Nordostrinne und kamen bald am Haus Nummer 175 vorbei, das einsam am Waldessaum liegt und das stets mein besonderes Interesse hervorruft, weil ich gern wüsste, wie die Leute darinnen leben. Einmal klopfe ich noch an diese Haustür.
Jetzt war alles dunkel im Haus.
Über den ausdrücklich so bezeichneten Privatweg kamen wir endlich auf die Dorfstraße. Der große Wagen war bereits ein gutes Drittel um den Polarstern herum gewandert.
Über dem Pass zum Sonneberg hin, genau an der Stelle, wo nach wochenlangem Biwakieren in den Wäldern 1968 die russischen Panzer, Lastkraftwagen und motorisierten Schützen der miteinander auf EWIG verbündeten Volksarmeen in die Tschechoslowakei einbrachen, um den von Millionen Menschen mit Hoffnung begrüßten Prager Frühling niederzuwalzen, war die schmale Sichel des Mondes hervorgetreten. Dieser Naturvorgang fand statt, mit Zuverlässigkeit, nach wie vor.
Wir schwiegen. Für heute schien alles gesagt. Unser Gespräch hatte ein gutes, wenn auch offenes Ende gefunden. Es hatte Antworten gegeben und weitere Fragen. Nichts war endgültig, nichts stand fest. Besonders heutzutage...
Und wer da behauptete, Unwiderrufliches über Fragen wie Liebe, Leben, Tod, Macht, Glück, Leid, Raum, Zeit oder Ewigkeit zu wissen, war entweder ein Dummkopf oder ein Verführer. Das hatten wir bereits vorher gewusst.
Es ist schwer, einen neuen Blickwinkel für sich selbst zu finden, selbst wenn man es wirklich will. An dem, was du dir im Verlaufe deines Lebens mühsam an Wissen und Erfahrung erworben hast, hängst du eben und lässt es nicht gern in Frage stellen, selbst wenn es sich herausgestellt hat, dass es falsch ist und du es im Grunde auch bereits weißt Die Macht der Gewohnheit ist so stark. Und es kann manchmal geradezu tödlich sein zuzugeben, dass man sich für einen Irrtum geopfert hat.
Mir war also klar geworden, dass es nicht allein die philosophischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen waren, die mich zu einem Entschluss drängten. Oder die persönlichen Probleme, in die ich mich manövriert hatte.
Es lag in mir, da hatte Thomas völlig recht. Nur, dies zu wissen, brachte mich auch nicht recht weiter. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, dachte ich an jenem Abend resigniert. Irgendwoher würde vielleicht ein Anstoß kommen.
Sicher gewöhnt man sich dran, dass einen ihre LEHRE auf Schritt und Tritt verfolgt, einen täglich aus Rundfunk, Fernsehen und Presse anspringt. Eigentlich müssten nach fünfunddreißig Jahren Einerlei alle gleichmäßig ausgerichtet sein, müsste jeder nach diesem Glauben problemlos leben können. Denn nun ist klar, dass es sich bei den uns verwirrenden Erscheinungen nicht um antagonistische Widersprüche handelt. Unsere Dialektik erlaubt es uns sogar, die überall wie Pilze emporschießenden Übel als für die Entwicklung notwendige Widersprüche zu kennzeichnen.
Aber merkwürdig, das Volk verschließt sich mehr und mehr. Es ist nicht wahr, dass man die Masse ideologisch manipulieren kann, wenn sie für die neue LEHRE nicht offen ist. Wenn nicht geglaubt wird, entsteht keine Woge. Im Gegenteil, irgendwann verkehrt sich plötzlich alles.
Es setzt sich zusammen aus einem Mosaik von tausenden Kleinigkeiten, die so vielschichtig und verflochten wirken, dass man daran zweifeln muss, jemals beschreiben zu können, wie diese schizophrene Doppelbödigkeit überhaupt entstand, auf der unser heutiges Leben gründet und was uns trotz dieses ständig wachsenden Gegensatzes zwischen Sein und Schein vor dem Zusammenbruch bewahrt.
Nur wer drin ist, weiß es. Nur wer drin war, kann endgültig desillusioniert sein. Nur wer wirklich dafür begeistert war, kann das Vakuum ermessen, das folgte, nachdem der schöne und humane Traum des Sozialismus von Leuten vom Schlage Stalins getötet und von der resignierten Gemeinde der ehemaligen Kämpfer zu Grabe getragen wurde.
Und dabei sah anfangs tatsächlich alles so gut aus, so, als sei die Zeit endlich reif.
Die Welt ist doch wirklich nicht mehr dieselbe, seit die Bombe auf Hiroshima fiel. Und darüber hinaus sind in der Zeit unseres kurzen Lebens über die Hälfte aller bisherigen Erfindungen der Menschheit gemacht worden. Der Mensch setzte seinen Fuß auf einen anderen Himmelskörper und war dadurch doch immerhin in der Lage, die Einmaligkeit seines blauen Planeten zu erkennen. Und da sollten die sozialistischen Vordenker nicht recht gehabt haben?
Ich empfand ein großes Erstaunen in mir, als ich plötzlich, so kurze Zeit nach unserem ergiebigen abendlichen Frühlingsspaziergang, jenes eigenartige Gefühl verspürte, dass etwas mit mir nicht in Ordnung sei.
Wir waren gleich auf unsere Zimmer gegangen, als ich, kaum im Bett liegend, fühlte, wie nacheinander einzelne Gliedmaßen und bald auch mein ganzer Korpus abzusterben begannen. Zuerst war es nur so ein Kribbeln, bald darauf aber war mir, als trockneten mir unaufhaltsam Haut und Fleisch ein, so dass sie gewissermaßen an den Knochen klebend zusammenschrumpften.
Auf welche Weise ich ins Krankenhaus gelangt war, entzog sich meiner Kenntnis. Wahrscheinlich hatte ich bereits im Hotel das Bewusstsein verloren. Noch im Auto, das einer neuzeitlichen GRÜNEN MINNA beunruhigend ähnelte, hatte ich es jedoch kurz vorm Erreichen der Auffahrt zum Eingang des Hauptgebäudes wiedererlangt.
Zum Entsetzen des Fahrers wie des mich begleitenden Pflegers war ich, als man die hintere Tür des Wagens geöffnet hatte, von der Trage gesprungen und mit der Aktentasche in der Hand, in der sich, was mich überraschte, mein Frühstück vom Morgen befand, in das Hauptgebäude hinein, den langen gefliesten Korridor entlang und dann rechts die Treppen zur ersten Etage hoch in die innere Abteilung gelaufen.
Seltsamerweise wusste ich genau, wohin ich wollte.
Als ich die Pendeltür zur Station aufstieß, um mich im Schwesternzimmer zu melden, schienen alle außerordentlich überrascht und starrten mich einigermaßen fassungslos an. Offenbar sah ich selbst für das an Kummer und Elend gewöhnte Krankenhauspersonal ziemlich furchterregend aus. Meine Begleiter, die mir gefolgt waren, ohne mich jedoch einholen oder gar aufhalten zu können, standen jetzt abwartend und zögernd hinter mir in der Tür.
Die diensthabende Stationsschwester schrie, etwas außer Kontrolle geratend, eine kleine schwarzhaarige Praktikantin, die ich von irgendwoher kannte, und den Fahrer des Gefängniswagens gleichzeitig an:
„Menschenskinder, das ist doch der Magenbluter, den können sie doch nicht so alleine hier raufkommen lassen! Schwester Rosi, holen sie um Gotteswillen ganz schnell Doktor Deutscher her! Ich hab` keine Ahnung, was ich im Augenblick machen soll!“
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