Am nächsten Tag rief er schon wieder an und sagte: Ich kann ohne Sie nicht mehr leben; Sie haben mir mein Herz gestohlen oder es bereits zerbrochen. Sagen Sie doch nicht immer gleich nein. Ich meine es wirklich ehrlich und ernst mit Ihnen, Corinna, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich liebe Sie schrecklich.
Immerhin konnte er sie mit seinem heutigen Gerede ein bisschen umstimmen. Schließlich kam sie zum Schluss: Er liebt mich wohl wirklich und ich kann ihn in mein Haus lassen.
Er kam gegen Abend hin wieder und holte sie ab. Im Restaurant saßen sie sich vorerst traut und still gegenüber, bis er zu ihr sagte: Du bist mir ein Rätsel.
Du mir schon auch, sagte Corinna.
Sie duzten sich jetzt, was einen kleinen Fortschritt in ihrer Beziehung darstellte.
So kommen wir keinen Schritt weiter, meinte er.
Ich will zuerst wissen, ob wir zueinander passen, meinte Corinna altklug. Ich habe dich noch nicht genügend kennengelernt.
Und er: Um kein Risiko einzugehen, müssen wir ja nicht gleich heiraten, sondern trotz Intimität es eine Zeitlang lose versuchen.
Vom Nebentisch starrten vier Augen dauernd zu ihnen herüber. Wie unangenehm!, empfand sie. Das reichliche Essen auf dem Teller konnte Corinna heute kaum zwingen, obgleich sie hungrig gewesen war und es ihr wirklich gut geschmeckt hatte. Rudolph jedoch aß alles bis auf den letzten Rest auf. Ein Gläschen Wein, das reichte ihm heute auch; er musste doch anschließend das Auto noch durch Westberlins Straßen lenken. Corinna war keine alkoholsüchtige Frau, hierzu besaß sie keine Schwäche, eher für eine Zigarette. Sie zahlte diesmal, denn sie wollte sich nicht immer einladen lassen, um nicht in Abhängigkeit von Rudolph zu geraten. Sie fühlte sich als anständige und selbständige, aber auch emanzipierte Frau, die wusste, was sie wollte auf dieser Welt. In ihrer Art lag etwas Resolutes.
Nachdem sie das Restaurant verlassen hatten, berieten sie gemeinsam, was sie heute bis zum Abend noch unternehmen könnten und trafen schon eine Auswahl. Aber schließlich schlugen sie alle Vorschläge in den Wind und Rudolph fuhr sie nachhause.
Corinna, die mitunter plötzlich von großer Langeweile überfallen wurde, entschloss sich, wieder als Übersetzerin zu arbeiten. Sie suchte ihren alten Buchverlag auf, der in der Vergangenheit mit ihr gut zurecht gekommen war. Sie bekam einen 500 Seiten langer Roman, den sie vom Französischen ins Deutsche übersetzte. Sie strengte sich mächtig an. Es ging zügig voran. Mitunter musste sie eine Erholungspause einlegen, um nicht in Stress zu verfallen. Dann erlaubte sie dem Regisseur, mit dem sie seit kurzem intim war, sie wieder zu besuchen, was dieser sich durch hartnäckiges Werben erkämpft hatte. Dies hatte sich für sie dann wie eine Niederlage dargestellt. Sie fühlte sich nämlich von ihm wie über den Tisch gezogen. Er nächtigte hin und wieder auch bei ihr und morgens nach dem Frühstück schickte sie ihn weg. Er drehte wieder einen neuen Spielfilm, so war er in seine neue Arbeit eingespannt und sie in ihre.
Er fand Corinna jetzt legerer und sagte schon mal zu ihr: Du bist ja gar nicht so entsetzlich schwierig und unangenehm wie ich anfangs glaubte. Fast kann man mit dir jetzt Pferde stehlen. Und dann lachte er fröhlich, denn er liebte sie wirklich ganz außergewöhnlich, vielleicht wie noch keine Frau vor ihr, so hatte es für Corinna den Anschein.
Sie schwieg meistens und hielt sich mit Kritik zurück. Sie wurde eine liebende Frau, drückte die Augen zu bei Widerwärtigkeiten und verzieh ihm. Sie wollte ihn nicht mehr provozieren, aber auch nicht aufs Podest stellen. Sie wusste, dass er auch zu andern Frauen nett war und wahrscheinlich mit ihnen auch schlief. Sie sagte sich: Das ist bei Männern so Sitte. Diese Vielweiberei! Im Grunde sind die Europäer nicht besser als die arabischen Scheichs. Eine Angewohnheit seit Urzeiten her. Sie besitzen einfach zu viel Hormone. Eifersucht ließ sie aus dem Spiel oder unterdrückte sie gleich zu Anfang. Sie dachte allerdings auch: Ich bin nicht auf ihn angewiesen. Übertreibt er es einmal und kann ich ihn nicht mehr ertragen, dann werfe ich ihn einfach ruck zuck hinaus. Mein letztes Mittel, das ich noch im Köcher habe, denn ich kann, wenn ich will, erfahrungsgemäß sehr rabiat und konsequent sein.
Sie nahm täglich die Pille; sie wollte um Himmels willen von niemandem ein Kind bekommen, auch nicht von Rudolph. Dies will ich nicht riskieren, dachte sie. Sie war jetzt 29 und fühlte sich schon alt, als sei sie schon eine Ewigkeit auf der Welt, denn sie hatte schon viel durchgemacht und manches hinter sich gebracht. Sie führte jetzt eigentlich ein geruhsames Leben, wenn sie nicht durch ihre 60-jährige Mutter häufig gestört worden wäre, die ihr vorjammerte und sie um Geld bat. Irgendwie wusste die geldgierige Person, dass Corinna einige Millionen auf der Bank liegen habe, die viel Zinsen abwürfen, sonst hätte sie nicht kürzlich zu ihr gesagt: Immerhin warst du nach und nach mit Millionären verheiratet, die werden dir schon bei der Scheidung eine hübsche Summe überwiesen haben, was doch auch rechtens ist oder?
Damit ihre Mutter für eine Zeitlang wieder Ruhe gab, besänftigte Corinna sie mit einer nicht gerade geringen Geldzulage.
Sehr lange brauchte Corinna, bis sie den umfangreichen französischen Roman restlos ins Deutsche übersetzt hatte. So dicke Bücher übersetzte sie ungern, weil sich die Arbeit daran ewig hinzog. Sie hatte es immer gerne, wenn sie beim Übersetzen Licht am Ende des Tunnels sah. Sie steckte für ihre Arbeit ein geringes Gehalt ein, aber das war ihr egal. Dem Verlag teilte sie mit, sie wolle nun mindestens ein Vierteljahr pausieren und in Urlaub fahren, anschließend würde sie sich dann eventuell wieder melden. Sie erhielt vom Verlag zwei Exemplare von ihrem übersetzten Buch, eines schenkte sie Rudolph, der neugierig war, wie gut seine Heiß-Geliebte übersetzen konnte. Das Buch gefiel ihm gut. Eine schöne bildhafte Sprache, fand er, und nicht zu abstrakt.
Während ihrer Freizeit und wenn Rudolph für längere Zeit fortblieb, wurde es Corinna immer schnell langweilig. Ein ödes Leben führe ich, jammerte stets. Ach, ich weiß nichts mit mir anzufangen! Was ist nur mit mir los? Geht es allen so? Plötzlich fiel es ihr dann ein, einkaufen zu gehen, was eine Ablenkung für sie war.
Heute verdross sie wieder das Leben fortwährend und ungemein. Sie zog sich um und machte sich auf den Weg zum Supermarkt, um Abwechslung zu haben. Aber sie war leider mit dieser seltsamen Krankheit Kleptomanie behaftet, das wusste sie. Es wird schon nichts passieren, beruhigte sie sich selber so gut es ging. Ich habe doch genügend Bargeld in der Tasche. Ganz ausgeschlossen, heute stehle ich gewiss nicht; es wird mich nicht überkommen.
Wahrscheinlich verhielt es sich vorerst auch so, wie sie dachte. Mit einem großen Einkaufswagen, den sie mit sich herumzog wie eine Schnecke ihr Haus, fuhr sie zage im Supermarkt die Regale entlang, links und rechts die Ware prüfend, während sie zugleich spionierend ihre Augen rundum gehen ließ. Ihre große Umhängetasche mit dem Portmonee hielt sie wie gewöhnlich halb aufgeklappt, damit sie, falls es sie plötzlich überkäme, blitzschnell handeln könne. Nun konnte der Streich beginnen. Sie war sehr angespannt, fast setzte ihr Herzschlag aus. Schon merkte sie, die Kleptomanie packte sie mit mächtigem Griff. Nein, sie konnte ihr nicht mehr entkommen, als sie bei den Käsesorten anlangte. Vor den Stinkkäsen hielt sie sich mit Macht und Bedacht zurück. Zu penetrant! Aber Schimmelkäse und Parmesan, ja, die stopfte sie verstohlen und in Eile in ihre Umhängetasche hinein. Andere Sachen legte sie offen und wie ehrliche Kunden in den großen Einkaufswagen, sichtbar für jeden, wie Tee, Kaffee, Zigaretten, Weinflaschen, Likör, Kekse und ein bisschen Obst zum Hausgebrauch. Aber als sie bei den Süßigkeiten ankam, vergriff sie sich schon wieder und ließ blitzschnell Schokolade und Pralinen in ihre Umhängetasche fallen. Aus, fertig, Amen, sagte sie schließlich, jetzt ist es wirklich genug! Nun hin zur Kasse! Der Kick des Stehlens war vorüber. Gott sei Dank! Sie entspannte sich. Lange stand sie Schlange vor der Kasse, was sie hasste. Leise klappte sie ihre Umhängetasche zu, damit niemand sah, was darinnen steckt. Die Erregung ließ fühlbar nach. Aber trotzdem weinte sie leise wimmernd vor sich hin aus lauter Unglücklichsein, weil sie schon wieder gestohlen hatte, wenngleich nur Minderwertiges, was doch kaum der Rede wert war. Aber gestohlen ist gestohlen. Ich armes Geschöpf, klagte sie, und Tränen kullerten nacheinander über ihre vor Aufregung geröteten Wangen. Schnell zog sie aus der Jackentasche ein Taschentuch und wischte sich damit die Tränen ab. Als sie endlich an die Reihe kam, legte sie brav wie aufrechte, ehrliche Kunden, die sich nichts zu Schulden kommen lassen, ihre Artikel aus dem großen Einkaufswagen auf das Fließband, erwiderte den Gruß der Kassiererin, stopfte die Sachen schließlich ziemlich rasch in die mitgebrachte Stofftasche und zahlte mit einem großen Geldschein. Nachdem ihr die Kassiererin das Wechselgeld herausgegeben und noch einen schönen Tag gewünscht hatte, verließ sie in großer Eile den Supermarkt, mehrmals sich umsehend wie eine durchtriebene Diebin. Offenbar hatte sie niemand beim Stehlen beobachtet. Niemand lief ihr nach. Niemand holte sie ein. Ach, sagte sie sich wiederholt, wie bekomme ich die Kleptomanie wieder los? Wehe mir, wenn ich einmal erwischt werde! Diese Gedanken umschwirrten sie vielfach auf dem Nachhauseweg.
Читать дальше