„Hast du schon bestellt?“, fragte ich prustend, aber endlich sitzend. Sich dünner zu machen, als die eigenen Kilos es erlaubten, um sich durchzwicken zu können, glich einem Unterwassermarathon, der schlauchte.
„Wo denkst du hin? Wenn ich den Platz verlasse, wird er womöglich von jemand anderem beschlagnahmt“, schnaubte Simba entrüstet. Ihr Kontra erinnerte mich, dass wir in einem Selbstbedienungsladen saßen und man besser wirklich einen Unterwassermarathon in Angriff nähme, als sich durch dieses Lokal noch einmal durchzuzwängen, um Essen zu holen. Darüber hinaus stand ich seit vierzehn Tagen mit meinem Gewicht im Zweikampf. In Anbetracht dessen wäre es zweckmäßiger, auf Essen zu verzichten. Aber die angenehmen Düfte, aus der Küche strömend, erweckten meine Magensäfte, was mir anfängliches Magenknurren einbrachte. Nicht mehr willens meinen inneren Schweinehund in Schach zu halten, blickte ich auf die seitlich an der Wand hängende Menütafel, auf deren sämtliche Speisen aufgelistet waren. Simba entschied sich für einen doppelten Hamburger. Meine Vernunft hingegen für Salat und Gebäck. Anders entschieden hätte ich den restlichen Tag mit meinem inneren Schweinehund im Zoff gelegen.
Als wir beide das Tablett mit Essen vor uns auf dem Tisch hatten (bitte nicht fragen, wie wir das schafften) und wir tüchtig zulangten, forderte ich Simba kauend auf: „Sag schon. Was ist los.“
Im Begriff ihren Hamburger zum Mund zu führen, hielt sie inne und schmunzelte. „Sieg auf der ganzen Linie.“
„Er will sich wirklich scheiden lassen?“
Simba nickte lachend und triumphierte: „Er liebt mich als doch.“
„Er hat mit seiner Frau gesprochen?“
„Ja, stell dir vor, sie hat nichts dagegen.“
Das war ja zu schön, um wahr zu sein. Nur glaubte ich es nicht.
Simbas siegesreiches Lächeln erlosch. „Natürlich ist es traurig, dass er für unsere Liebe seine Familie aufgibt. Ich meine, seine Kinder ... und sein Familienleben.“ Sie atmete tief ein und seufzte. „Er ist ja nicht aus der Welt. Für die Kinder wird er wie bisher da sein.“
So redete für gewöhnlich jemand, der sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte. „Dir ist nicht wohl bei der Sache, wie?“
Mit einem Schlag sah sie aus, als wäre ihr der Appetit verdorben. Der Hamburger wanderte auf den Teller zurück. „Weiß auch nicht, was mit mir los ist. Anstatt mich zu freuen, dass für alle endlich Klartext herrscht, muss ich immerzu an seine Kinder denken.“
„Ich hab sowieso nie verstanden, warum du dich an einen verheirateten Buchhalter mit Kindern klammerst, wo du in deiner Lage jeden haben könntest.“
„Hast du schon mal was von Liebe gehört? So wie du redet nur jemand, der nicht weiß, was Liebe ist.“
„So? Dann kläre mich auf. Was ist denn Liebe deiner Meinung nach?“
„Verzeihung ist hier noch frei?“
Aus unserem Gespräch gerissen, sahen wir beide auf den gut aussehenden Mann, der unsere Antwort nicht erst abwartete, sondern sein Tablett auf unserem Tisch abstellte, als gehöre er dazu. Sowohl Schal, als auch sonstige im Moment überflüssige Kleidung warf er über die Lehne des einen noch leeren Stuhls, auf den er sich dann setzte. Sein zusätzliches Tablett neben unseren überforderte die Platzkapazität der Tischplatte. Es zwang Simba und mich, unsere Essen so lange hin und her zu schieben, bis keiner mehr die Befürchtung hegen musste, dass eines vom Tisch fiel.
„Ist viel los hier“, vermeldete er lächelnd in entschuldigendem Tonfall, bevor er sich emsig über sein Menü hermachte.
Normalerweise lag mir nach so einem Blend-a-med-Lächeln und so einer Null-acht-fünfzehn-Bemerkung eine dementsprechende Antwort auf der Zunge. Irgendetwas hielt mich davor zurück. Wahrscheinlich meine Selbstbeherrschung, die ich benötigte, um meine Augen nicht immer wieder auf sein Erscheinungsbild wandern zu lassen. Er sah verdammt gut aus. Trotzdem er stets mit dem Handrücken an seiner Nase herumrubbelte und schniefte, während er genüsslich kaute. Scheinbar hatte er Schnupfen.
„Wovon sprachen wir?“, fragte ich Simba, der es offenbar ähnlich erging wie mir. Auch ihr Blick schweifte immer wieder auf diesen Mann. Auf meine Frage straffte sie sich, als hätte sie eine Tarantel gebissen und genauso hörte sich ihr Kommentar an: „Tut mir leid, geht nicht. Vielleicht ein andermal, wäre toll.“
Ich bekam den Silberblick, als hätte ich ihn bestellt. Was sie meinte und wovon sie redete, wusste der Kuckuck, ich jedenfalls nicht. Aber als kluge, angehende Abteilungsleiterin war mir sofort klar, dass in Anbetracht unseres unwillkommenen Gastes Erik als Gesprächsthema ausfiel.
„Sagen Sie, kennen wir uns nicht? Entschuldigung, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“
Er schniefte wieder. Hatte er kein Taschentuch?
Von einer komischen Oper in die nächste geschleift, zeigte mein Zeigefinger, auf meine Brust, wobei ich stotterte: „Meinen Sie mich?“ Meiner Meinung nach eine angebrachte Frage, immerhin saß ich nicht allein an dieser winzigen Platte, die sich Tisch nannte.
Er nickte. „Sie erinnern mich an jemanden.“
Na, die alt bewährte Anmache war zutiefst abgegriffen in heutigen Zeiten, mit ziemlichen Kratzern wohlgemerkt. Dennoch gefiel sie mir. Aber nie und nimmer hätte ich das zugegeben.
Simba beobachtete uns mit den Blicken einer Löwin, die vor der reißenden Schlacht ihr Opfer fixierte. Ich saß wie auf glühenden Kohlen.
Wenn man schon einmal das Glück hatte, dass sich ein toller Mann scheinbar für einen interessierte, wollte man sich souverän, witzig und schlagfertig zeigen, um ihm zu imponieren und eventuell sein Interesse zu steigern. Aber wie sollte man das von einer Sekunde zur anderen bewerkstelligen, wenn man sonst auch nicht zu den Pointenerfindern der Schöpfung zählte? Mir fielen die besten Kommentare ja meistens erst hinterher ein, abends allein im Bett, im Falle sämtliche Gespräche des Tages Revue passierten. Unter dem Druck von „so wär ich gern“, brachte ich trotz Anstrengung nur ein saudämliches Grinsen zustande. Wenigstens half mir das, Zeit zu schinden, bevor Dümmeres über meine Lippen kam, das mich endgültig blamierte.
„Irgendwo hab ich Sie schon gesehen“, spann er aus. „Wenn ich nur wüsste, wo?“ Er begann in seinen Hosentaschen zu wühlen. Gleich darauf zog er ein Taschentuch hervor, in das er geräuschvoll anhaltend hineinschnäuzte.
Simba sah aus, als fühle sie sich überflüssig und stand auf. „Muss gehen“, meinte sie, „es kommt ein Interessent, der vielleicht eines meiner Bilder kauft.“
Mir fiel das Besteck aus der Hand. „Warte, ich muss auch ...“, sprudelte es aus meinem Mund, zusammen mit einigen Essensbrocken, die auf der Tischplatte landeten. Von diesem Schönling „angemacht“ zu werden war für mich unmöglich länger zu verkraften. Ohne Simbas symbolischem Schutz schon gar nicht. Dieser Fremde brachte meine sonst so gefestigte Persönlichkeit derart ins Torkeln, dass ich mir nur noch behämmert vorkam in seiner Gegenwart. Als betagter Beziehungspleiten-Single machte ich mir natürlich nichts vor. Im mittäglichen Zeitvertreib hätte er vermutlich jede angebaggert, deren Weg er kreuzte. Eine alltägliche Sache. Nicht Wert, lange darüber nachzudenken. Schon gar nicht irgendetwas daraus zu schließen. Eine nichtssagende Zufallsbekanntschaft, die regelrecht danach schrie, sie zu vergessen.
Auf der Straße angelangt, im Schnee vorwärts stapfend, rückte mir Simba meinen verwirrten Kopf zurecht: „Wieso bist du nicht geblieben, wo ich extra das Feld räumte.“
Spinnt die? „Es genügt, dass Claudia mich verkuppeln will. Fang du nicht auch damit an.“
„Nicht nötig. Sogar ein Blinder hätte bemerkt, dass er sich für dich interessiert.“
„Sei nicht albern. Auf so eine plumpe Anmache kann ich in meinem Alter verzichten.“
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