Noch merkwürdiger war, dass diese unglaubliche Unordnung in allen Räumen herrschte, die sie betraten. Die Möbel schienen unberührt, aber ein Teil ihres Inhaltes lag weit verstreut auf dem Fußboden.
Dann entdeckte Karola Herbst den einzigen Hinweis auf Unsauberkeit. In der Stube lagen zwei Weingläser auf dem Tisch. Sie waren benutzt worden, bevor sie umfielen, denn in ihnen klebte noch angetrockneter Rotwein und zwei Lachen waren in die Tischdecke eingedrungen. Auch sie waren bereits eingetrocknet, was darauf schließen ließ, dass die Gläser schon einige Tage so herumlagen. Aber sie waren nicht irgendwie umgefallen, sondern lagen wie ausgerichtet nebeneinander, so, als wäre der Stoß von einer Seite gekommen, oder jemand hätte die Gläser absichtlich in dieser Weise auf die Seite gelegt. Dabei waren sie nicht einmal zerbrochen. Dass ein oder zwei Gläser umfielen, kam vor, aber wer würde sie einfach dort liegenlassen, noch dazu ohne den Wein aufzuwischen?
In diesem Augenblick wurde Bernd Niewald auch klar, was ihn an dem Anblick der verstreuten Dinge störte, auch wenn es ihm nicht sofort aufgefallen war. Nichts lag wild durcheinander, sondern alles war in einer bestimmten Richtung angeordnet. Diese Richtung war in jedem Raum etwas anders, innerhalb eines jeden Raumes aber gleich. Es sah fast so aus, als wäre ein heftiger Windstoß durch die Zimmer gefegt, in jedem aus einer etwas anderen Richtung, und hatte alles, was er erfassen konnte, geordnet über den Fußboden verteilt. Aber die Fenster waren alle geschlossen. Außerdem wäre ein derartig gleichgerichteter Windstoß selbst bei geöffneten Fenstern und Türen in dieser Dauer und Stärke absurd. Noch seltsamer kam ihnen vor, dass nichts an den Wänden, die sich gegenüber den Fenstern befanden, aufgehäuft worden war. Wie ein gewöhnlicher Einbruchdiebstahl sah das alles jedenfalls nicht aus.
„Dort“, machte Karola Herbst ihren Kollegen aufmerksam und zeigte in eine bestimmte Ecke der Stube.
„Ich sehe nichts. Was soll da -, du meinst -?“
Es war nicht sofort ersichtlich, was die Polizeiobermeisterin meinte, aber dann fiel auch Bernd Niewald der seltsam formlose Schatten auf. Im gleichen Augenblick wurde er aber durch die Sonnenstrahlen, die durch ein Fenster fielen, als sich kurz eine Wolkenlücke auftat, wieder aufgelöst.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich will nur wissen, ob du es auch gesehen hast.“
„Nur ein Schatten“, erwiderte er.
„Ja, nur ein Schatten. Aber wovon? Er war gestaltlos, wie ich finde, aber deutlich. Und er war entstanden, als die Sonne von Wolken verdeckt war und ist verschwunden, als sie wieder hervorkam. Findest du das normal?“.
Der Polizeihauptmeister schüttelte mit dem Kopf. Eine Antwort fiel ihm aber auch nicht ein.
„Ich glaube nicht an Geister, aber verlassen wir lieber den Raum.“
„Das wollte ich gerade vorschlagen.“
Bernd Niewald glaubte, ein leichtes Zittern in der Stimme seiner Kollegin zu hören. Und auch er selbst spürte, wie sich die Atmosphäre befremdlich verändert hatte.
Nachdem die beiden Polizisten sicher waren, nichts mehr im Haus entdecken zu können, was ihnen die Umstände erklärte, entschlossen sie sich, auf dem Grundstück nach irgendwelchen Spuren zu suchen. Beide waren froh, das Haus wieder verlassen zu können, denn die unerklärliche Beklemmung und die allmähliche Ahnung der Anwesenheit von etwas, was sie nicht sehen konnten, verstärkten sich, je länger sie sich dort aufhielten. Keinem von beiden fiel auf, dass sie unbewusst vermieden, den Keller zu untersuchen. Es machte noch nicht einmal einer den Vorschlag, da hinunterzugehen.
Es bestätigte sich, was sie bereits vermutet hatten. Gewaltsam war niemand in das Haus eingedrungen. Fensterrahmen und die wenigen Fensterläden, die das Wohngebäude noch besaß, waren wie die Haustür unversehrt. Dort gab es also auch keinen Hinweis darauf, was geschehen war. Ebenso erfolglos blieb die Besichtigung der kleinen Nebengebäude. Auffällig war hier nur, dass sie nicht von der Unordnung, wie sie in dem Wohnhaus herrschte, betroffen waren. Alles war sehr rätselhaft und, ohne dass ein handfester Grund dafür vorlag, furchteinflößend. Wie der Postbote richtig berichtet hatte, war nicht nur die Familie Benninghaus verschwunden, sondern auch alle ihre Haustiere.
Die beiden Beamten waren schon dabei, das Grundstück mit ungewöhnlich zügigen Schritten wieder zu verlassen, als Bernd Niewald seine Kollegin auf eine etwas entferntere, aufgewühlte Stelle im Rasen hinwies, die anscheinend frisch aufgeworfen worden war, aber im Schatten eines mächtigen Rhododendron-strauches lag, weshalb sie ihm auch nur zufällig aufgefallen war. Karola folgte ihm widerstrebend.
Der Ort entpuppte sich als flacher Trichter, etwa einen halben Meter tief und einen Meter im Durchmesser. Das Erdreich war am Rand gleichmäßig zu einem kleinen Wall aufgeworfen worden und dahinter noch ein Stück sternförmig verstreut. Das war noch ein Rätsel, denn es gab keine typischen Grabespuren, fast so, als wäre der Trichter nicht von Menschenhand entstanden, sondern von innen heraus. Die Trichterwand war erstaunlich gleichmäßig gestaltet.
Auch diesem Geheimnis kamen die beiden Beamten nicht auf den Grund und keiner von ihnen hatte Lust, in dem Trichter zu graben.
„Lass uns weggehen“, bat Karola Herbst ihn jetzt beinahe beschwörend.
„Ja, du hast Recht. Irgendetwas stimmt hier nicht.“
Karola sah ihren Kollegen an.
„Seit wann spürst du es?“ fragte sie.
„Seit der Begegnung mit diesem Schatten in der Stube, so flüchtig er auch war. Ich möchte es aber nicht als spüren bezeichnen, es ist eher eine düstere Ahnung. Hast du deshalb gezögert, als wir vorhin ausstiegen?“
Karola Herbst nickte. Dann verließen sie das Grundstück.
Bei ihrem Einsatz hatten die beiden Polizisten zwar wenig herausgefunden, aber genug gesehen, um vorschlagen zu können, auf der Beekwarf mit einer größeren Zahl von Beamten eine gründlichere Untersuchung durchzuführen. Vielleicht war es sogar ein Fall für das LKA, aber dessen Benachrichtigung war sicher noch nicht der nächste Schritt.
Zu diesem Zeitpunkt gab es noch Hoffnung, dass die Familie Benninghaus wieder lebendig auftauchen würde, wo immer sie sich zu dieser Zeit aufhielten. Alle ihre Eindrücke und Sinneserfahrungen ließen sie jedoch ganz andere, zu diesem Zeitpunkt noch unerklärliche Umstände befürchten, denn die Tatsache, dass sie auf der Beekwarf von unerwarteten, ihnen für gewöhnlich unbekannten Gefühlsregungen betroffen waren, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, ließ den Schluss zu, dass Dinge im Spiel waren, denen sie bei ihren bisherigen Polizeieinsätzen noch nie begegnet waren.
Mit dem anhaltenden Nebel zu der Zeit, als die Familie verschwand, brachten sie das Ereignis nicht in Verbindung. Ein solcher Zusammenhang wäre ihnen auch vollkommen abwegig erschienen.
„Glaubst du an Gespenster?“, unterbrach Karola das Schweigen. Für einige Zeit hatte jeder von ihnen seinen Gedanken nachgehangen. Das war eine überraschende Frage von einer Ordnungshüterin.
Bernd Niewald wandte den Blick nicht von der Straße, aber sie wusste, dass er sie verstanden hatte. Ein kurzes Lächeln flog über sein Gesicht, es sah aber alles andere als belustigt aus.
„Wenn du mir diese Frage gestern gestellt hättest, hätte ich vermutet, dass du mich auf den Arm nehmen willst“, entgegnete er. Und nach eine kurzen Denkpause: „Und es darf eigentlich auch jetzt nicht anders sein, aber nach allem – ich weiß es nicht.“
„Du schließt die Möglichkeit aber nicht aus?“
„Ich kenne allein schon aus meiner Familie drei oder vier Gespenstergeschichten, erzählt von meiner Großmutter und einer Tante. Kindergeschichten, wie ich vermute, und als Kind war ich davon auch ziemlich beeindruckt. Aber ehrlich – ich weigere mich heutzutage einfach, an so etwas zu glauben. Und was wir auf der Beekwarf erlebt haben – reicht das tatsächlich schon für eine Gruselgeschichte mit Gespenstern?“
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