Herzberger schaltete den PC aus und ging ins Bad. Seine Frau hatte sich schon ins Bett gelegt, war aber noch wach.
»Ich hatte noch einen Anruf von Dekan Blechlinger. Ich muss morgen mit unserem Propst zu einer Tagung nach Belgrad fliegen.«
»Ja flieg nur. Ob ich hier alleine klarkomme oder nicht, ist dir doch sowieso egal.«
»Ingrid, nun fang nicht schon wieder an mit Streit.«
»Dir ist doch alles egal, sonst würdest du dich nicht immer hinter deinem Herrn verbergen.«
»Lass uns nicht streiten. Wir bleiben nur drei Tage. Wenn ich zurück bin, können wir vielleicht einmal etwas ausspannen und zwei oder drei Tage wegfahren.«
»Wegfahren? Wohin? Und wenn wir dann zurückkommen, ist meine MS dageblieben?«
»Ich kann doch auch nichts dafür, dass es dir nicht so gut geht. Gott ist mein Zeuge, ich würde wahrlich viel dafür geben, wenn du gesund werden würdest.«
»Dein Gott ist dein Zeuge. Wach endlich auf. Deinen Gott gibt es nicht!«
Herzberger nahm wortlos seine Decke und das Kopfkissen und ging zu dem alten Sofa ins Wohnzimmer. Er bereute seinen Auszug aus dem Schlafzimmer spätestens, als er merkte, dass es ziemlich unbequem auf dem durchgelegenen Sofa aus den 50er Jahren war. Es war die erste Nacht, in der er schlecht schief. Es sollten noch einige schlaflose Nächte folgen.
Als er dann doch eingeschlafen war, griffen durchsichtige Gestalten nach ihm. Er wollte weglaufen, sie kamen ihm aber immer näher. Als sie ihn eingeholt hatten, umkreisten sie ihn. Sie wurden immer größer. Oder wurde er immer kleiner? Um seinen Hals wurde plötzlich ein Strick gelegt und irgendeine unsichtbare Macht zog ihn zu. Das Atmen fiel ihm schwer. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Weit hinten, durch Feuer und Rauch umhüllt, kam ein Wesen auf ihn zu. Ein Gesicht, wie zur Fratze entstellt, tanzte vor seiner Nase. Herzberger zuckte zurück. Die Fratze kam immer näher. Du bist der Teufel! Weiche von mir Satan! Herzberger schrie es. Doch er schrie es nur im Traum. Jetzt öffnete der Teufel seinen Mund. Schwefliger, fauler Gestank drang aus des Teufels Mund, als er sprach:
Deinen Gott gibt es nicht! Wach endlich auf! Recht hat sie, deine Frau. Ich bin der Herrscher. Du gehörst mir! Ich bereite dir Freude und Lust!
Dann war der Traum plötzlich vorbei. Schweißgebadet wachte Gregor Herzberger auf und bekam einen Hustenanfall. Sein Hals tat ihm weh. Ungläubig schüttelte er den Kopf und
flüsterte: »Das war doch nur ein Traum. Ein wirklich böser Traum. Aber doch nur ein Traum.«
Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen,
also tut ihnen gleich auch ihr.
Lukas 6, 31
Der »Circus Maximus« lag im strahlenden Sonnenschein. Einst war es der größte Zirkus Roms. Er hatte eine Fläche von 45.000 Quadratmetern und war damit zwölfmal so groß wie das Kolosseum. Er bot einst 150.000 bis 300.000 Zuschauern Platz. Bis ins späte erste Jahrhundert n. Chr. wurden darin auch athletische Wettbewerbe und Tierhetzen veranstaltet. In seinem Ausbauzustand im Jahre 117 n.Chr. war der Circus Maximus 580 m lang und 80 m breit. In aller Welt bekannt wurde er durch den legendären Film Ben Hur mit Charlton Heston in der Hauptrolle, aus dem Jahre 1959. Der Monumentalfilm bekam 1960 in 11 Kategorien den Oscar. Heute ist der Circus Maximus eher ein unscheinbarer, ungepflegter Acker mitten in Rom. Optisch gesehen eher eine Enttäuschung für viele Touristen. Gleichwohl spürt man an diesem Ort ein Hauch von Historie, setzt man sich zum Beispiel auf eine Bank an die Längsseite des »Ackers« und lässt die antiken Geschehnisse im Geiste vorüberziehen.
Am Ende des Zirkusses, wo die Via del Circo Massimo in die Viale Aventino mündet, stehen große schattenspendende Bäume. Eine Gruppe junger Leute saß an diesem Vormittag darunter. Es war heiß, trotzdem trugen alle schwere, schwarze Umhänge oder Mäntel. Die vier jungen Frauen waren allesamt auf einer Kopfhälfte rasiert. Sie hatten schwarzlackierte Fingernägel und schwarzen Lippenstift aufgetragen. Die drei jungen Männer zogen sich die Kapuzen bis in die Stirn. Ihre teilrasierten Schädel wurden so vor der Sonne geschützt. Einige hatten Ketten mit Kreuzen, deren Querbalken nach unten wiesen, um den Hals hängen. Sie diskutierten aufgeregt.
»Ich kann das einfach nicht verstehen, seit einer Woche ist Katharina verschwunden. Vor drei Wochen ist genau das Gleiche mit Markus geschehen.«
Der älteste der jungen Männer unter ihnen schüttelte den Kopf.
»Vielleicht haben sie einen Ausweg gefunden oder sind jetzt irgendwo zu ein bisschen Geld gekommen«, warf ein Mädchen ein.
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Nie im Leben hätten die beiden uns ohne ein Wort zu sagen verlassen. Nein, nein, denen ist hundert pro etwas passiert.«
»Was soll denn schon passiert sein? Vielleicht sind sie außerhalb Roms in eine Kontrolle geraten und verhaftet worden und …«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, wiederholte sich die junge Frau.
»Dazu sind sie schon viel zu lange weg.«
»Und was sollen wir nun machen? Zur Polizei gehen?«
»Auf keinen Fall. Die buchten uns nur wieder ein.«
»Wir müssen vorsichtiger werden. Vielleicht sollten wir unsere Treffen vorerst einstellen.«
»Und was wird aus unseren Messen? Ich halte an unserem Glauben fest. Das gibt mir so viel innere Kraft.«
»Ich sagte doch vorerst mal einstellen.«
»Na gut, aber ich brauche etwas zur Beruhigung.«
»Ich habe noch einen Rest von den Tabletten für dich.
Für uns alle bekomme ich morgen eine neue Lieferung. Wir brauchen aber noch etwas Geld. Die Bettelei bringt nicht so viel. Versucht, ein bisschen mehr zu bekommen. Wir sollten uns jetzt trennen. Da werden schon Leute auf uns aufmerksam. Wir sehen uns heute Abend nach zwölf im Kolosseum. Passt auf, der Zaun ist wieder aufgestellt. Weiter hinten ist aber ein neues Schlupfl och. Also, bis dann.«
Nach und nach gingen die jungen Frauen und Männer getrennte Wege. Jeder versuchte in den nächsten Stunden, so gut er konnte, Geld zu beschaffen. Das war tagsüber genauso gut möglich wie nachts. Rom schläft nie. Man muss nur seine eigene Methode finden und innerliche Barrieren überwinden. Das sagten sich schon lange, alle Mitglieder des Zirkels.
Stephan Kronberg, der Student aus Deutschland, war nie der Schnellste und nie der Fleißigste. Und so war seine Art der Geldbeschaffung einfach nur durch Bettelei zu machen. Nie war er dabei lange an einem Standort, obwohl er schon das Kolosseum oder den Hauptbahnhof bevorzugte. Auch die Mitleidstour, eine hinkende Gangart, brachte ihm den einen oder anderen Euro ein. Als Sammelmedium benutzte er stets eine Blechdose, auf der in deutscher und italienischer Sprache: Für die Tsunamiopfer stand. Entwendet hatte er sie aus der Basilika Santa Maria sopra Minerva, kurz bevor er mit Nachdruck gebeten wurde, die Basilika zu verlassen. Man sagte ihm auf seine Frage, warum er nicht wie alle anderen das Recht hätte, sich in dieser wunderschönen gotischen Kirche auszuruhen, dass man Ungläubigen schon, bevor sie Schaden anrichten könnten, entgegentreten müsse. Stephan verstand die ungewöhnlich rabiate Vorgehensweise der Dominikanermönche in der Basilika nicht, und so empfand er das Mitnehmen der Sammelbüchse als ausgleichende
Gerechtigkeit.
Später erfuhr er, dass die Basilika Santa Maria sopra Minerva in der Vergangenheit ein Schauplatz wichtiger Inquisitionsprozesse gewesen war. Hier wurde über einfache sowie auch über höhergestellte Personen gerichtet. Prozesse wie der gegen Galileo Galilei und Luigi Pasquali fanden ebenfalls hier statt.
Naja , sagte er sich‚ die haben wohl Angst um ihre schönen Gemälde und Statuen gehabt . In der Tat sind in der Basilika zahlreiche Kunstwerke, Decken- und Wandgemälde von Michelangelo und Bernini gefertigt.
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