Ich hasse Schmutz. Als ich noch in dem schwarzen Haus gefangen war, hielt das tägliche Putzen mich davon ab, völlig den Verstand zu verlieren. Ich nahm mir vor, die ganze Wohnung zu einem späteren Zeitpunkt gründlich zu reinigen. Heute wollte ich erst einmal wie geplant zu Britta.
Es gab noch eine weitere Zimmertür, wie ich feststellte, als ich das Badezimmer verlassen hatte. Neugierig ging ich darauf zu, um mir den dahinterliegenden Raum anzusehen. Da bewegte sich der übergewichtige Poker plötzlich mit einer erstaunlichen Wendigkeit, um mich daran zu hindern.
„Da gibt es nichts zu sehen“, behauptete Bobby hastig, der sich neben Poker geschoben hatte.
„Was versteckt ihr da drin?“, fragte ich misstrauisch. Waren die vier doch nicht so ehrlich zu mir, wie sie taten? Sollte das etwa schon das Ende unserer Freundschaft sein?
„Zeigt ihr doch das Zimmer“, schlug Cäsar vor, der hinter mir stand und wieder anfing zu kichern, vielleicht vor Aufregung.
„Nun macht schon“, pflichtete ihm Wuschel bei.
Bobby trat ein Stück zurück, und Poker drückte die Klinke, um die Tür anschließend aufzustoßen, die sich mit einem leisen Knarren öffnete.
Der Raum, in dem sich wie in der restlichen Wohnung die Wärme des Tages gestaut hatte, war unauffällig, wie ich fast enttäuscht feststellte. Hier stand ein Kleiderschrank an einer Wand, an zwei weiteren Wänden sogar zwei Etagenbetten, jedoch ohne Matratzen.
„Die hat der Knast ausgemustert“, behauptete Poker, der direkt hinter mir stand. Vielleicht hatte er sogar Recht damit.
Wie in dem Zimmer, in dem die vier Männer schliefen, gab es einen abgetretenen Teppichboden und Tapetenreste an den Wänden. Die dünnen, orangerot karierten Vorhänge waren zugezogen und verdeckten ein Fenster und eine Balkontür.
„Wie gesagt“, wiederholte Bobby neben mir bestimmt, „es gibt nichts zu sehen.“
Er log. Ich las es in seinen Gedanken. Ich betrat das Zimmer. Die vier Männer blieben im Flur. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wieso schliefen die vier in einem Raum auf dem Boden, wenn es einen zweiten mit Betten gab, der ungenutzt blieb? Dann bemerkte ich den widerlichen Geruch - als wäre ein Mülleimer lange nicht geleert worden. Kam der Gestank aus dem Kleiderschrank? Gern hätte ich nachgesehen, was sich darin befand, doch ich traute mich nicht, den Schrank zu öffnen. Das wäre doch zu neugierig gewesen. Stattdessen zog ich den Vorhang vor der Balkontür auf. Dahinter befand sich keine Gardine.
Fast die gesamte Fläche des kleinen Balkons Richtung Hinterhof wurde von einer Gefriertruhe eingenommen. Fragend sah ich mich um.
„Die stand ursprünglich in der Küche, nahm da aber nur Platz weg“, erklärte Bobby, der mir in das Zimmer gefolgt war. „Es war uns peinlich. Wir wollten nicht, dass du uns für blöd hältst, weil wir uns die Mühe machen, eine Gefriertruhe quer durch die Wohnung auf den Balkon zu schleppen.“
„Sie hätte beinahe nicht durch die Balkontür gepasst. War ein halbes Umbringen“, ergänzte Cäsar, der nun ebenfalls den Raum betreten hatte, und kicherte wieder.
„Komm, Inga, lass uns ins Wohnzimmer gehen und da noch ein bisschen quatschen, bevor du zu deiner Schwester aufbrichst“, schlug Bobby vor und griff sanft meinen nackten Oberarm.
Ich nickte nur. Durch den ekelhaften Geruch in dem Raum war mir bereits leicht übel. Gerade wollte ich mich umdrehen und Bobby zurück in den Flur folgen, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass sich auf der Gefriertruhe etwas bewegte. Kleine gelbliche Punkte. Ich sah genauer hin. Es waren Maden.
„Der Kerl hat einfach nur genervt und musste weg“, erklärte mir Wuschel etwas später.
Ich hatte neben ihm auf dem grauen Sofa in dem sogenannten Wohnzimmer Platz genommen. Bobby und Cäsar saßen im Schneidersitz auf ihren Matratzen, und Poker lag lächelnd auf einer weiteren Matratze, die Hände auf seinem dicken Bauch gefaltet, in Erwartung einer guten Geschichte.
„Immer wieder ist der Typ hier aufgetaucht“, fuhr Wuschel fort, „hat im Haus herumgeschnüffelt und wollte uns die Wohnung abluchsen.“
„Aber es gibt hier doch noch genug leerstehende Wohnungen“, bemerkte ich verständnislos.
„Ja, aber die sind erstens alle völlig verschimmelt“, antwortete Bobby, „und zweitens nicht mit schönen Möbeln eingerichtet, die wir hier haben. Das hier sind die einzigen bewohnbaren Räume in dieser Baracke. Nicht umsonst haben wir uns die Mühe gemacht, alle Möbel vom Sperrmüll in den dritten Stock zu schleppen. Man muss bekloppt sein, wenn man sich in einer der anderen Wohnungen niederlässt.“
„Jedenfalls“, erzählte Wuschel weiter, „wollte der Kerl nicht kapieren, dass er hier nichts verloren hat. Dann haben wir ihn eines Tages beim Nachhausekommen erwischt, wie er die Wohnung durchsuchte. Da gab‘s zur Strafe dann erst mal ein paar mit dem Eisenrohr. Die Rohre liegen nämlich nicht umsonst im Flur. Die haben wir zu unserer Verteidigung. Vier gegen einen. War ein bisschen unfair. Und leider etwas zu viel für das Weichei. Der Kerl ist draufgegangen. Genauso war‘s.“
Poker nickte zufrieden bei diesen Worten.
„Und dann?“, fragte ich neugierig, obwohl ich mir andererseits nicht sicher war, ob ich das wirklich wissen wollte.
„Wir haben ihn nach unten in den Hinterhof geschleppt“, berichtete Wuschel weiter. „Es war schon dunkel und goss in Strömen. Zuerst wollten wir den Mistkerl vergraben. War uns dann aber zu umständlich, weil hier alles zugepflastert ist. Also haben wir ihn mit Axt und Säge zerlegt. War auch eine Sauarbeit, das kann ich dir sagen. Im Film sieht das immer so einfach aus. Isses aber nicht. Da ist ‘ne Menge Blut geflossen, aber das vermischte sich mit dem Regen und sickerte in den Gully.“ Wuschel machte einen Moment Pause, bevor er weitersprach. Cäsar kicherte aufgeregt.
„Anschließend haben wir alles in Plane und Teppichreste gewickelt. Davon liegt in den leeren Wohnungen reichlich herum. Dann sind wir nach oben und haben die Gefriertruhe auf den Balkon geschafft. Das war echte Maßarbeit. Dann wieder nach unten, die Einzelteile nach oben geschleppt und ab in die Truhe damit.“
„Seitdem hat unsere Wohnungstür ein Schloss“, sagte Bobby ernst. „Jetzt im Sommer riecht es ziemlich übel, aber das wird in ein paar Monaten vorbei sein, wenn der Kerl zersetzt ist.“
Plötzlich spürte ich wieder einen unbändigen Lachreiz. Ich biss mir in die Innenseiten meiner Wangen, um ihn zu unterdrücken. Es war doch zu komisch: Ich dumme Gans machte mir Gedanken, weil ich vor Jahren einer Frau, die noch nicht einmal ein echter Mensch war, das Gesicht verätzt hatte. Andere hatten ganz andere Sachen auf dem Kerbholz. Das relativierte doch alles, was ich jemals angestellt hatte. Auch die unschöne Geschichte mit Jonas Solitär, die mich immer noch schaudern ließ.
Ich merkte, wie mich die anderen erwartungsvoll ansahen. „Danke für eure Offenheit“, sagte ich mit klarer Stimme, als ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
Dann ging ich in den Flur und nahm den kleinen Strohhut aus meiner Reisetasche, den ich erst einige Tage zuvor besorgt hatte. Den wollte ich bei meiner Ankunft bei Britta tragen, um sie zu beeindrucken. Zu ihrer Wohnung würde ich schwarzfahren müssen, denn mein letztes Geld hatte ich für die Bahnfahrt nach Hamburg ausgegeben.
Zwischen Britta und mir hätte alles gut werden können. Das hatte ich mir so sehr gewünscht. Ich war sogar bereit, in ihrer Kanzlei zu arbeiten, um ihr zu zeigen, was in mir steckte, dass ich kompetent und zuverlässig sein konnte. Für meine Schwester überwand ich mich und saß von morgens bis abends im Büro. Und mein Arbeitsplatz hatte noch nicht einmal Fenster. Ich konnte nicht nach draußen sehen. Das war die Hölle. Fast hätte ich gleich an meinem ersten Arbeitstag alles verdorben, als ich meine Kollegen anfauchte, weshalb sie mich so ansahen. Dabei hatte ich nur Angst. Ich hatte nur Angst davor, wieder gefangen zu sein.
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