Da schob sich ein Bild vor sein geistiges Auge, das ihm noch heute einen Schauer über den Rücken jagte: die unglaublich bösen Augen der Bestie. Er sah sich die Flinte an die Schulter reißen und sofort schießen.
Die Bilder lösten sich auf, und Ray merkte, dass sein Körper von starkem Zittern förmlich geschüttelt wurde. Er hatte die ganzen Jahre dieses Erlebnis verdrängt. Er hatte tatsächlich vergessen. Nein! Nicht ganz! Er hatte dieses Erlebnis, das schlimmste seines Lebens, tief in sich vergraben und eine hohe Schutzmauer um dieses Grab errichtet. Doch nun war diese Mauer eingebrochen. Warum? Er grübelte vor sich hin und versuchte, die schwindenden Bilder seines Traums zurückzuholen.
Er stand auf, schlurfte in die Küche und setzte Kaffee auf. Danach ging er ins Badezimmer und wusch sich mit kaltem Wasser. Er blickte in den Spiegel, in sein von Falten und einem langen Leben gezeichnetes Gesicht. Aber er sah durch sein Spiegelbild hindurch und erblickte das Gesicht seines Enkels. Hanky lachte diesmal nicht. Er blickte sehr ernst. Er sah aus wie ein Erwachsener.
Als der Laster etwa zweieinhalb Stunden gefahren war, wurde Hanky auf der Ladefläche unruhig. Er spürte, dass in der Nähe etwas passiert war. Er hatte dieses Gefühl schon einmal kurz nach der Abfahrt gespürt, als der Lastwagen die Stelle passierte, an der Mike Clark, der Fuhrunternehmer, ermordet worden war.
Doch hier war es irgendwie anders. Hanky spürte, dass er hier gebraucht wurde und auch Hilfe finden konnte. Er lehnte sich hinten aus dem Lastwagen, und als dieser an einer Anhöhe langsamer wurde, sprang Hanky beherzt ab. Er geriet leicht ins Straucheln, fiel dann trotz aller Ruderbewegungen seiner Arme auf die Straße und schlug sich die Knie auf. Geistesgegenwärtig humpelte er schnell zum nahen Straßengraben und ließ sich ins hohe Gras fallen.
Der Lastwagen rumpelte davon und war schon bald über den nächsten Hügel verschwunden. Hanky setzte sich auf und überlegte, was er wohl hier wollte. Nach einer Weile stand er auf und rieb sich noch einmal seine schmerzenden Kniescheiben. Dann ging er langsam los und schaute sich suchend um. Es dauerte gar nicht lange, bis er am Straßenrand niedergedrücktes Gras fand. Dort musste ein Wagen durchgefahren sein. Hanky wusste aber aufwundersame Weise, dass diese Spur für ihn keine Bedeutung hatte, und so übersah er das Auto von Walt Kessler, das weiter unten am Baum stand.
So ging er weiter und vertraute auf sein Gefühl, das ihm bestimmt sagen würde, wann er gefunden hatte, was er unbewusst suchte. Mit einem Mal fiel ihm sein Großvater ein. Der würde sich bestimmt große Sorgen machen, wenn er erfuhr, dass Hanky verschwunden war. Er ging noch einige Schritte weiter und blieb dann auf einmal wie angewurzelt stehen. Aus dem Gras im Straßengraben ragte ein Bein.
Walt Kessler spürte ein heftiges Rütteln. Nur langsam löste sich sein Geist aus der wohltuenden Ohnmacht. Widerwillig stellte er fest, dass dieses Rütteln nicht aufhörte. Nun kam auch noch eine Stimme hinzu, die irgendetwas rief. Er konnte zunächst die Worte nicht verstehen. Aber die Stimme hörte nicht auf zu rufen. Walts Geist klärte sich, und er tauchte immer weiter auf, wie ein Taucher aus dem Meer. Nach einiger Zeit, Stunden, Minuten, Walt wusste es nicht, verstand er die Worte. Die Stimme rief: »Mister Kessler — Auuuufwaaachen — Haaallooo, Mister Kessler — können Sie mich hören? Mister Kessler — bitte machen Sie die Augen auf — Halloooo, Mister Kessler ...«
Walt kannte diese Stimme von irgendwoher. Wer war das, der ihn da rief? Wenn seine Augen doch nur nicht so schwer wären. Doch die Stimme gab nicht auf, und auch das Rütteln spürte er immer noch. Mit großer Willensanstrengung öffnete Walt schließlich die Augen und sah erst verschwommen und dann immer klarer jemanden vor sich. Ungläubig und verwirrt schaute er in das runde Gesicht von Hanky.
Ray Berson hatte sich auf den Weg zu seinen Kindern gemacht. Er lief erst etwas steifbeinig und dann immer lockerer über die Wiesen hinunter in Richtung Prisco. Es war immer noch früh, und es drangen kaum Geräusche der Zivilisation an seine Ohren. Dafür hörte er all die Stimmen der Natur, die er so liebte. Die auch Hanky so liebte. Das leise Zirpen der Insekten, das Rauschen des Windes in Büschen und Gräsern, das Zwitschern eines Vogels am Waldesrand. Ray wollte erst einmal nachschauen, ob Hanky nicht doch zu Hause war und er einfach nur schlecht geträumt hatte. Doch tief in seinem Inneren wusste Ray, dass es nicht so war.
Wenig später erreichte er das Haus seiner Kinder und ging leise durch die Hintertür ins Haus. Alles war noch ruhig. Leise drangen Schlafgeräusche aus dem Elternschlafzimmer. Ray ging vorsichtig die Treppe nach oben und blieb vor der Tür zu Hankys Zimmer stehen. Er öffnete die Tür und sah hinein. Doch da war niemand. Hanky war fort. Ray stand etwas ratlos da und überlegte, was er nun tun sollte, als sein Blick auf die alte Zigarrenkiste am Fußende des Betts fiel. Das war Hankys Schatzkiste, und sie stand offen. Ray ging zum Bett, nahm die Kiste und schaute hinein. Die Kiste war leer. All die kleinen Schätze, bunte Glasmurmeln, ein Bild von einem Hund, das Hanky einmal in einer Zeitschrift gefunden hatte, ein Stück seltsam geformtes Holz, das Hanky aus dem Wald mitgebracht hatte, lagen verstreut auf dem Laken herum. Doch es fehlte das Geld, das sich Hanky über die Jahre gespart hatte. Es war nicht viel, gewiss, doch der Junge hatte nie Geld gebraucht und wusste auch nicht, wie man etwas kaufen konnte. Doch nun war das Geld nicht mehr da. Mit Hanky musste etwas passiert sein. Er musste sich verändert haben. Er musste fortgegangen sein und dabei das Geld mit sich genommen haben. Wo war er nur hingegangen? Wo war Hanky?
Nach einer Weile konnte sich Walt Kessler aufsetzen. Hanky stützte ihn. Walt fühlte sich benommen und fürchterlich müde. Er schaute Hanky an und wusste, dass dies nicht mehr der Hanky war, den er gekannt hatte. Dieser da sah irgendwie verändert aus. Er sah erwachsen aus. Aus dem breiten Gesicht schauten ihn aufmerksame und wache Augen an. Hanky war nicht mehr das dumme Kind, nein, Hanky war nun ein Mann.
»^ie kommst du denn hierher, Hanky?«, fragte Walt Kessler.
»Nur mal langsam, Mr. Kessler. Ich muss Sie erst mal in Sicherheit bringen, oder zumindest an einen Ort, wo Sie sich ausruhen können. Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.«
Damit griff Hanky Walt unter die Achseln und stellte ihn auf die immer noch sehr wackligen Füße. Danach legte er ihm den Arm um die Hüften, und sie liefen langsam auf die Straße. Am Anfang hatte Walt noch Probleme, sich auf den Beinen zu halten, doch nach und nach ging es ihm besser. Er war nur so schrecklich müde. So marschierten die beiden die Landstraße entlang. Nach zwei Stunden mit etlichen Verschnaufpausen entdeckte Hanky etwas abseits der Straße einen kleinen Bauernhof. Ohne sich die Mühe zu machen, einen Weg zu suchen, liefen
Hanky und Walt über die Wiese auf das Bauernhaus zu. Alles war still, und nicht einmal das Bellen eines Hundes oder das Gegacker von Hühnern war zu hören.
»Das sieht ziemlich verlassen aus«, meinte Walt. »Als ob dort niemand mehr wohnen würde.«
Und so war es auch. Hanky und Walt durchsuchten die Farm und fanden keine Spur von den Besitzern. Alles war staubig, und einige Scheiben des Wohnhauses waren zerbrochen. Hanky schob vorsichtig eines der Fenster auf und kletterte ins Haus. Es standen zwar noch einige alte Möbel herum, doch es war klar, dass hier niemand mehr wohnte. Hanky stöberte durch alle Räume, sogar im Keller schaute er sich um. Nein, hier war keiner mehr. Hier konnte Walt sich erst mal ausruhen. Im Wohnzimmer klopfte Hanky aus einem Sofa den Staub heraus, so gut es ging. Walt schob ihn aber zur Seite und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er lag noch keine Minute, da war er schon eingeschlafen. Hanky überlegte, was nun zu tun sei. Eigentlich hätte er hinter dem Ding herjagen müssen, aber er konnte Walt doch nicht einfach hier liegen lassen. So beschloss er, sich wenigstens einmal die nähere Umgebung der Farm anzusehen. Als er aus dem Wohnzimmer schlich, hörte er nur das leise Schnarchen von Walt Kessler.
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