Nach der Weihnachtsfeier hatte Josef zu ahnen begonnen, dass hinter ihrem durchschnittlichen, doch mehr unansehnlichen wie bleichen Aknegesicht, selbstverständlich von getönter Designerbrille geometrisch eingerahmt wie ein sauteurer Mondrian, und von zu dünnen blonden Haaren wie Mia Farrow in Polanskis Hexenzirkel quasi burschikos umhüllt, ein neurotisches Minenfeld lag, das man besser nicht betrat. Die undeutliche Wässrigkeit ihrer graublauen Augen bekam eine dermaßen entsetzt scharfe Wachheit, als er ein Rumpsteak bestellte, und sie stöhnte hörbar in Richtung ihres Mannes, dass man augenblicklich wusste, was sie meinte. „Warum frisst der Scheiß-Lohnempfänger nicht einfach Scheiß-Spaghetti mit Tomatensoße und einem grünen Salat? - Einem kleinen grünen Salat. Weiß denn der Möchtegern nicht, was er uns eh schon das ganze Jahr über kostet? Einfach so? Von Rechts wegen? Steuer, Versicherung, das ganze Pi-Pa-Po in diesem Scheiß-Sozialstaat?“
Dabei hatte Josef das Rumpsteak bestellt, weil es billiger als das Filetsteak war. Und Nudeln konnte er im Restaurant nun mal nicht essen. Denn da konnte er beim Essen nur an die eigenen denken, denn er kochte sie selber weit besser. Al dentiger. Die Soße pfiffiger.
Ihr Mann verriet sich indessen nicht, schwadronierte lieber weiter über seine Ausbildungszeit, wo alle schon schwer unter Druck aber doch irgendwie lustig drauf waren. Einmal hatte sich sogar einer den eigenen Schädel direkt in seinem Büro weggeblasen, weil er dem Druck nicht mehr gewachsen war. Warum er, der Chef, nicht einmal seiner Frau gewachsen war, blieb unerwähnt, schlug ja auch erst ein paar Monate später zu Buche, als Josef auf die gleich hinterfotzige Art vom kapitalistisch klebrigen Süßholzsteckerl gespackt wurde, wie man ihn vorher darauf angepickt hatte. Auf miese Art und mit ebenso miesen Nachwürfen. Das Vorurteil des kleinschwänzigen Sportwagenfahrers erfüllte sich ebenso wie das von der hysterischen Bandbreite, die eine ungefüllte Gebärmutter entwickeln konnte.
„Mach mir bitte die Hündin.“
„Nein! Knie nieder! Ich hole das Halsband.“
Josef sah es jetzt ganz klar. Fruchtlos. Um einige Monate zu spät. Jetzt hockte er schon wieder in einer Kündigungssituation. Aber die war anders gelagert. Eine größere Firma, der Personalchef so auch nur ein Angestellter, der marktkonform agierte. Freundlich agierte. Angeblich agierte. Im Grunde war das alles nur noch beschissener. Da hatte man überhaupt keinen Angriffspunkt mehr, keinen wirklich Schuldigen, nur mehr Watte rundherum. Scheiß-Geld, das man nicht mehr angreifen konnte, das einen zudeckte, erstickte. War das eigentlich noch anständiges Büttenpapier, auf dem sich die grafischen Linien und Schnörkel in diversen Sicherheitsmerkmalen darboten? Seit es diese Währung aus Toren und Brücken gab wurde man den Eindruck nicht los, dass das nur eine schrottige Übergangslösung war. Eine Abzocke zwischendurch, bis zum nächsten Schritt, zur digital kontrollierten Kapitalabsaugung. Von Geburt an am Tropf der Gönner hängen, per Fingerprint verhaftet zur lebenslangen Rückzahlung der ungewollten Fütterung. Bis man die Schlapfen an den Überboden spackte, die Kosten der letzten Kiste auch noch an die Gönner überwiesen wurden. Von der nächsten Generation. No way out. Hope I gonna die, before I get old.
Josef sagte: „Das ist sehr schade. Sollten sich die Dinge wieder besser entwickeln, dann denken Sie bitte an mich.“
Es war erstaunlich, wie viele Gedanken einem in einer so kurzen Zeit der Redepause durch den Kopf schießen konnten.
Avanzotti nickte.
Und Josef verließ das Büro.
(1)
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen.“
„Gehen wir es wieder einmal an?“
„Scheiss Wetter.“
„Ja.“
„Ist normal.“
„So ist es wenigstens nicht um die Zeit schade.“
„Das nicht.“
„Ja, klar.“
„Ist ja schon das ganze Monat schon so beschissen.“
„Ja.“
2. Freizeit ist Freiheit?
Spüren
Der Lawinenstrich war bretthart. Der harte Harsch in sich verschmolzener Eis- und Schneekristalle bot überhaupt keinen Halt, das Gelände war ein einziger Abgrund, hunderte Meter tief, ein Gefälle dessen Prozentwert man sich gar nicht vorstellen mochte. Er zog den bereits gesetzten Fuß vorsichtig wieder zurück, schaute nach oben. Dort sah es etwas besser aus. Er kletterte ein Stück weit nach oben um festzustellen, dass es hier gleich eisig war, er also höchstens noch tiefer fiel, wenn er ausrutschen sollte. Und das würde er ohne Zweifel. Es war verdammt gefährlich. Kein Eispickel dabei, die Sohlen der Bergschuhe von den niederen Temperaturen hart und so glatt wie Plastik. Er überlegte, ob es Sinn machte, das Taschenmesser aufzuklappen, um es notfalls ins Eis stechen zu können, verwarf die Idee aber wieder. Er erinnerte sich, das schon einmal im Bruchharsch gemacht zu haben. Es hatte damals zwar funktioniert, um ein Haar wäre die Klinge aber umgeklappt und hätte ihm die Finger gekappt. Leicht vorzustellen war, was passieren würde, wenn die Klinge im Absturztempo an den Gelenken einklappte. Schließlich war sie gut geschärft. Die Fingerglieder würden munter nach unten hüpfen, und er, Josef, gleich munter hinterher rutschen. Es mochte zwar recht lustig aussehen, wenn frisch abgeschnittene Fingerglieder fröhlich über den glitzernden Bruchharsch hüpften und ihr Eigner fruchtlos fuchtelnd hinterherrodelte; - für allfällige Zuseher und; - allenfalls. Für Josef selbst war der Bedarf an solch zweifelhafter Survivalchirurgie eindeutig nicht gegeben.
Etwas weiter unterhalb waren ein Grasbüschel und ein einzelner Stein im Eis auszumachen. Der war sicher so angefroren, dass er hielt. Musste es sein. Vorsichtig, fast liegend brachte er den rechten Fuß zum Grasbüschel, um in leichter Grätsche draufzukommen, dass er auf diese Weise den linken Fuß nicht nachsetzen konnte. Shit! Das Ganze wurde immer mehr zu einem seidenen Faden, an dem er zwischen Himmel und Erde hing. Wenn er an dem Faden nach unten zur Erde hin abstürzte, würde ihn derselbe Faden anschließend unverzüglich himmelwärts befördern. Flott himmelwärts befördern. Ins Blau schießen. Auf Nimmerwiedersehen. Ein JoJo ohne Effekt quasi, aber einer mit One Way Ticket. No way back. Mehr zur Beruhigung hielt er sich an einem Harschbrocken fest und zog den rechten Fuß wieder zurück, kauerte überlegend eine Weile neben der Rutschbahn. Zurückgehen, die geplante Tour aufgeben? Wäre vernünftig, vielleicht das einzig Richtige, aber nun mal gar nicht sein Ding. Er war es gewohnt, einmal angefangene Dinge auch durchzuziehen. Auch wenn es hart wurde. Ein bisschen Adrenalin von Zeit zu Zeit konnte nicht schaden. Fand er immer schon. Das gab ihm den Kick, den sein Motor zum Weiterlaufen brauchte. Lieber was riskieren als sein Lebtag lang diese blöde Autoplay-Schiene zu fahren, in der alles brav abgesichert war, ganz nach dem Motto: „Birth, school, work, death.“ Welch Meister, welch Werk, welch Punk, welch epigonales Punkmeisterwerk! Mehr war dazu nicht zu sagen. Das traf´s auf den Punkt. Vorher noch Pension und Zusatz einzahlen und am besten noch vor der Lukrierung beider Töpfe abtreten. Für die Gesellschaft, für das Volkswohl, oder für sonst irgendeinen Arsch. Schläft einem nicht nur das Gesicht ein dabei. Nein auch der Arsch. Und der Schwanz sowieso. Sich den in der Rente immer noch von derselben Frau verwöhnen zu lassen, sich auf der sicheren Seite wie ein Wuchtelteig zu fühlen, ein klassischer Hefeteig, der zwar schon ordentlich durchgearbeitet wurde, aber doch einiges an Zeit brauchte, um auch wirklich anständig aufzugehen. Dafür konnte er aber auch um die Zeit wieder schneller zusammenfallen. Ähnlich wie der Börsenkurs angesagter Aktien. Erst ein hübsches stetes Ansteigen, ein Peak, eine wunderbare Spitze, und dann, zack! ein Abfall, senkrecht wie die Eiger-Nordwand. Also war eine traurig weiche, wenngleich noch leidlich geschmeidige Nudel alles an Gewinn, was einem die Rente per Hacklerregelung einbrachte, man also Polizist oder irgendein anderer Sesselfurzer war, sich alles richten konnte. Per Blasrohr oder Mausarm. Richtige Schwerarbeiter waren hierzulande immer noch beamtet. Schwer beamtet. Dauernd musste irgendein Formular ausgefüllt werden, Kästchen richtig angekreuzt, Namen richtig geschrieben, Daten penibel eingetragen werden, vor allem Gebühren auf Heller und Pfennig, Schilling und Groschen, neuerdings auf Euro und Cent eingetragen werden. Das kostete Nerven, machte aus einem Maus- schon mal schnell einen Tennisarm. Was hatten Bau- und Straßenarbeiter, Eisengießer und Industriearbeiter denn schon für eine Ahnung davon? Oder deren Frauen, die an Supermarktkassen ständig denselben Semmel in die Warenmulde schupften? Rein gar keine. Von berufswegen gut abgehärtet, brauchten sie den ganzen Tag nicht nachzudenken, weil die Arbeit eh immer die gleiche war und einen dazu noch körperlich kräftigte. Solcherart sparten sie sich die Kosten fürs Fitnesscenter also auch noch. Wahrlich himmelschreiend. Und da noch Extrawürste bei der Pension? Wo kämen der Staat und sein Politiker da hin? Woher sollte man das Geld für die Frühpension nehmen, so man sich als Minister erst einmal den Kopf kaputtgedacht hatte? Sowas war irreparabel. So ein schön kaputtgedachter Ministerschädel. Eine Büste der Tragik, quasi. Ein Elend. Woher das Geld für die Bonitätszahlungen für den Bankmanager in der Nachbarsvilla nehmen? Sollte der auf seine alten Tage etwa noch auf Knäckebrot umsteigen? Nein hier galt für´s ungelernte Volk immer noch g´sund sterben ist besser als krank feiern. Ist auch viel moralischer. Und viel besser für´s Gewissen. Was dachte man, wie schwer es war als Banker, wenn man erst ein paar Millionen verschleudert und verschoben hatte bis die Kredite quasi faulten, auch noch fünf davon als Abfindung kassiert zu haben? Die fünf Millionen, die noch nicht zu Kompost geworden waren natürlich. Die obenauf. Die waren immer schön im Trockenen gestanden die Scheine, wie es sich gehörte. Da hatte es immer vorbeigeregnet. Ganz wundersam war das gewesen. Ein verdammt unsanftes Ruhekissen, auf dem kaum Schlaf zu finden war, war so etwas, so ein Millionenpolster, der nicht nass geworden war. Nur das Geld der Kunden, das hatte es immer ordentlich angeschifft. Da wuchs nicht einmal mehr Salat drauf. Das reinste Papiermaché war es geworden. Aber auch nur das Geld von den anderen verquoll in wertlosen Papierbrei. Von denen das, das eigene, das des Bankers, das nicht.
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