„Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr!“ Der Mann schloss seine Arme so fest um Ysells Leib, dass ihr fast der Atem verging. „Du bist langsam!“
„W- woher“, stammelte Ysell aufgeregt und vergaß vor lauter Schreck sogar, sich zu wehren, „- wieso?“.
„Wieso ich wusste, dass du hier herauskommen würdest?“ Der Mann lachte grimmig „Glaubst du, dass ich alt geboren wurde? Ich habe diesen Weg selbst wohl an die hundertmal benutzt - und vor mir mein Vater und mein Großvater.“
`Übertölpelt!´ Der Gedanke versetzte Ysell schlagartig in helle Wut. Ohne jede Vorwarnung holte sie mit dem rechten Fuß aus und trat mit aller Kraft nach dem Schienbein des Mannes, holte sich an den metallbesetzten, ledernen Beinschützern aber nur einen abgebrochenen Zehnagel. Der plötzliche Schmerz tat ein Übriges. Außer sich vor Zorn und Angst trat und schlug Ysell um sich und hätte dem Wächter bestimmt in die Nase gebissen, wenn der seinen Griff nicht schnell gelockert und sie zu Boden gelassen hätte. Zu Ysells großem Ärger war er aber gewitzt genug, sie rasch bei ihrem Haar zu fassen und sich einige Strähnen um die Hand zu schlingen. So wurde sie denn, leise Verwünschungen vor sich hin zischend, mit hochrotem Kopf an ihren Haaren durch die halbe Stadt zu den Räumen der Wache geschleppt - ihrem Richter entgegen.
„So, so, Hühnermist also!“ Der Richter nahm seinen Hut ab und schaute nachdenklich hinein. „Das muss aber sehr unangenehm sein für die Wachen, wenn du ihnen Hühnermist in die abgelegten Helme tust. - Hast du denn daran nicht gedacht?“
„Äh, nö“, versicherte Ysell treuherzig „Hab ich wirklich nicht.“
„Und treten und schlagen und beißen, wenn man verhaftet werden soll“, fuhr der Richter unbeeindruckt fort „was soll denn das?“
„Och, das war ja nur Spaß“, beteuerte Ysell „Ich hab mich doch gar nicht richtig gewehrt!“.
„So?“ Der Richter schien irgendwelche Zweifel an dieser Darstellung der Dinge zu haben. „Und wer war dein Komplize?“, wollte er dann wissen.
„Welcher Komplize denn?“ Ysell schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich war allein.“
„Stell dich nicht dümmer als du bist!“ Der Richter sah streng auf Ysell hinab. „Also - der kleine Halunke, der mit dir zusammen gesehen wurde - der die Pferde der Wachen losband - wer war das?“
Ysell konnte es nicht verhindern, dass sich ein belustigter Ausdruck in ihre Augen stahl, als sie daran dachte, wie schnell die Wachen aus dem Haus gestürzt waren, nur an die Pferde denkend - eilig die Helme von der Fensterbank greifend ... Sie achtete jedoch sehr darauf, dass das Lächeln ihre Mundwinkel nicht erreichte. „Niemand.“ Ysell richtete sich zu voller Größe auf und sah dem Richter gerade ins Gesicht. „Niemand war bei mir. Ich war allein!“
„Du könntest es dir leichter machen“, schlug der Richter nun in versöhnlichem Tonfall vor „Wenn du mir den Namen des Jungen gibst, würde ich deine Bestrafung noch einmal überdenken.“
Sabé! schrie eine Stimme in Ysell auf. Gib ihm den Namen, dann lässt er dich in Ruhe! Was kann der Richter schon tun? Er wird euch eine kleine Strafe auferlegen, das hält Sabé schon aus! Aber wenn du bockig bist ... Schnell schüttelte Ysell diese verführerischen Gedanken ab. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie den Richter an. „Ich war allein!“, behauptete sie mit fester Stimme „Nur ich kann bestraft werden.“
„Gut!“ Der Richter nickte ernst mit dem Kopf „Wie du willst. - Es ist jetzt die Zeit der Mandelblüte. Du wirst, bis die letzte Mandel geerntet ist, jeden Tag den Platz der Wachen blitzsauber fegen - und achte dabei besonders auf Hühnermist!“
Wenig später gingen Ysell und der Wächter wieder gemeinsam durch die Stadt, denn selbstverständlich mussten Ysells Eltern von dem Vorfall unterrichtet werden. Kleine Staubwolken wirbelten um die Knöchel der beiden, wenn ihnen jemand entgegenkam, und sie zum Straßenrand hin ausweichen mussten. Der Steppenwind war in diesem Frühjahr besonders schlimm und trug eine solche Menge feinen Flugsandes in die Stadt, dass die Menschen halbe Tage damit beschäftigt waren, die Straßen gangbar zu halten. Ysell wurde es schlecht bei dem Gedanken an ihre Strafe. Der Platz der Wachen war groß, und jeden Tag war eine ganze Karrenladung Flugsand zu beseitigen.
Etwas ließ Ysell keine Ruhe; „Was wäre eigentlich geworden, wenn ich, na sagen wir mal, wirklich einen Komplizen gehabt und ihn an den Richter verraten hätte?“, wollte sie jetzt von dem Wächter wissen.
„Du hattest einen Komplizen, das wollen wir doch mal festhalten“, erwiderte der Mann freundlich. Er führte Ysell jetzt am Arm und sein Griff war lange nicht so schmerzhaft wie auf dem Weg zum Richter; „und wenn du ihn verraten hättest, dann müsstest du jetzt sicherlich ein volles Jahr lang den Platz vor der Wache fegen.“
„Ich werde noch verrückt!“, stöhnte Ysells Mutter und rang in offensichtlich größter Seelenqual die Hände. Mit fahrigen Bewegungen goss sie sich einen Becher Wein aus dem Krug ein, den ihr Mann mitgebracht hatte. „Ich werde noch verrückt!“
Ysell saß schweigend und starr auf der Kante des Betts und schaute mit leerem Blick aus dem einzigen Fenster des Zimmers, in dem die Familie wohnte. Es wurde schon Abend, und sie konnte ihre Eltern, die am Tisch saßen, nur noch als Schattenbilder vor dem etwas helleren Geviert erkennen.
„Du bringst deine Mutter noch ins Grab“, stellte der Vater mürrisch fest und sah Ysell böse an. Er hatte von seiner Frau gerade erfahren, was Ysell heute wieder angestellt hatte. „Du wirst unsere Familie noch in Verruf bringen!“
Mit unbewegtem Gesicht saß Ysell da und erwartete die übliche Strafpredigt. Sie machte sich keine besonderen Sorgen, denn sie hatte desgleichen schon zu oft erlebt. Ihre Eltern regten sich immer wahnsinnig auf, wenn sie bei irgend etwas erwischt worden war, aber sie beruhigten sich auch wieder genauso schnell, wenn Ysell keine Widerworte gab. Neu war an der heutigen Situation nur, dass sie der Obrigkeit aufgefallen und vom Richter verurteilt worden war.
„Das musste ja mal so kommen“, schwadronierte der Vater weiter „dass meine Tochter zur Verbrecherin wird! - Verhaftet - das hat es in unserer Familie überhaupt noch nie gegeben!“
Weil du so ein unverschämtes Glück hast! dachte Ysell, denn sie wusste genau, dass der Alte auf seinen Arbeitsstellen mitgehen ließ, was immer er konnte. Sie sagte aber natürlich nichts und ihr Gesicht blieb leer.
„Verhaftet und verurteilt“, stöhnte die Mutter, legte die Hand an die Stirn und trank gleich darauf in großen Zügen den Becher leer - gleich würde sie ruhiger werden, wusste Ysell, und gleich würde der Vater seinen üblichen Wutanfall bekommen. Ysell machte sich bereit, pflichtschuldig zusammenzuzucken, wenn die Faust auf den Tisch krachte.
„Verdammt noch mal!“, brüllte der Vater auch schon los und hob die Hand. Der Schlag fiel heute schwächer aus als erwartet - kaum mehr als ein müdes „Pong“ war zu hören - trotzdem ruckte Ysell hoch und sah ihren Vater angstvoll an.
„Ich habe es dir schon hundertmal gesagt!“, tönte der weiter. „Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, dann brauchst du dich an meinem Tisch auch nicht satt zu essen! Ein solcher Ausrutscher noch - nur ein einziger - und ich jage dich aus dem Haus! - Hast du das jetzt endlich begriffen?“
Ysell versuchte, schuldbewusst auszusehen und nickte schüchtern. Dabei sah sie sich den Tisch an, von dem sie verstoßen werden sollte. - Ein roh gezimmertes, wackeliges Möbel, das schon solange Ysell denken konnte in Ordnung gebracht werden sollte. Die Tischplatte war glatt und fast sauber, denn der verschüttete Wein und die Reste der kärglichen Speisen wurden täglich mit einem Lappen weggewischt. Was auf dem Tisch stand, war auch nicht sehr verlockend: Ein paar schlecht ausgespülte Becher standen neben Wein- und Wasserkanne und ein Stück altbackenen Brotes wartete auf einem Holzbrett auf seinen Verzehr. - Ysells Abendbrot, auf das sie heute, als Zeichen ihrer Bußfertigkeit, allerdings verzichten würde.
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