Nesthäkchen und ihre Küken
Nesthäkchen und ihre Küken
Nesthäkchen Band 7
© 1923 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Nachwort
Über die Autorin
1. Kapitel
Im eigenen Nest
Mutterli – is heut' übemoggen? Muttißen, Muttißen, farhum wortest du mir dar niß an? Liebes, jüßes, einjes Muttißen, släffte noch? Slaf doch niß immer los!«
Eine Kinderstimme trompetete es in den zärtlichsten Tönen aus der nebenan gelegenen Kinderstube mit so kräftigen Lungen, daß man Tote damit hätte erwecken können.
»Bschscht – Hansi, sei brav. Unser Mutterli ist halt noch arg müd. Leg' dich um, und schlaf noch a bissel«, beruhigte der Vater, der bereits mit der Morgentoilette beschäftigt war, seinen Sprössling.
»Wenn iß doch aber ßon danz doll ausdeslaft bin«, begehrte der dreijährige Hansi auf. »Weißte, Vaterli, was Muttißen is? Ne olle Slafmütze!«
»Mutti ist eine Schlafmütze – hahaha – Mutti, kriegt der Hansi dafür Haue? Soll ich ihn vielleicht verwichsen, wenn du noch zu müde dazu bist?« meldete sich Vronli, die sechsjährige Große, diensteifrig aus dem zweiten weißen Gitterbett in der Kinderstube.
»Untersteh' dich, Vronli, schon in der Früh mit dem Buben zu raufen – gebt Ruh, ihr Banditen. Klein-Ursel habt ihr jetzt halt auch mit eurem Trompeten aus dem Schlaf geweckt.«
Klein-Ursel, die ihr Bettchen im Schlafzimmer bei den Eltern hatte, meldete sich bereits.
»Mutti – meme – Lein-Usche Mutti Bett – – –«
Das reizende zweijährige Blondköpfchen lugte angestrengt zu dem Bett der Mutter herüber, wo sich noch immer nichts regte. Frau Annemarie brachte das Kunststück fertig, inmitten des Kindertumults sanft weiter zu schlummern.
Aber Annemaries Nesthäkchen war viel zu sehr ihre Tochter, um sich dabei zu beruhigen. Wie es einst Doktor Brauns Nesthäkchen getrieben, so machte es jetzt auch ihr eigenes.
»Mu–u–u–ti–i– i! Mu–u–u–ti– ii! Lein-Usche meme Bett –«. Klein-Ursels Stimme erklang jetzt in befehlendem Fortissimo. Und als auch das noch nichts verschlagen wollte, ging es zu einem gellenden Jammerruf über: »Mu–u–u–«, weiter kam das Kleinchen nicht.
»Mutterli – Mutti – Muttißen – –«, den vereinigten Anstrengungen ihres Trios hielt selbst Annemaries gesunder Schlaf nicht stand.
»Gören, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen, in aller Herrgottsfrühe schon solch ein Konzert zu veranstalten.« Halb lachend, halb ärgerlich klang es. »Hu–a–uh – –.« Annemarie gähnte herzbrechend.
»Da hast du den Schreihals, Mutterli – –.« Doktor Hartenstein ergriff sein brüllendes Nesthäkchen, ließ es ein-, zwei-, dreimal durch die Luft fliegen wie einen Gummiball, daß sich das Jammern in helles Jauchzen verwandelte, und setzte es mit einem Schwung mitten auf Annemaries Bett.
»Muttißen« – – nein, wer konnte da noch müde sein, wenn solch ein süßer Blondkopf glückselig zu einem herangekrochen kam und beide Ärmchen um Muttis Hals schlang. Wenn ein tränenfeuchtes Gesichtchen sich ganz fest an Muttis Wange schmiegte, wenn Nesthäkchen zärtlich flüstert«: »Lein-Usche Mutti lieb.«
Aber nun hielt es die beiden anderen auch nicht mehr in der Kinderstube. Mit einem Satz war Vronli aus dem Bett und mit einem zweiten in dem von Mutter drin. Hansi, ein kugelrunder Bub, folgte etwas langsamer und unbeholfener. »Guten Morgen, Mutti – backen wir heute Kuchen?« – »Muttißen, is heut übemoggen?«
Annemarie hielt sich lachend die Ohren zu.
»Immer nur einer auf einmal – wem soll ich denn da zuerst antworten? Ja, Vronli, wir backen heute Kuchen, Sandtorte und Napfkuchen. Das heißt, wenn ich dann noch am Leben bin, wenn ihr mich nicht bis dahin erdrückt habt.« Annemarie konnte sich kaum ihrer drei, welche der Freude auf das bevorstehende Kuchenbacken in stürmischer Weise Ausdruck gaben, erwehren.
»Wir helfen, Mutti.« – »Lein-Usche auch Tuchen backen – backe – backe – Tuchen, Bätter hat derufen –.« Das Kleinchen patschte seine rosigen Händchen zusammen.
»Is heut übemoggen, Muttißen?« Hansi, als konsequenter Mann, blieb bei seiner ersten Frage.
»Ja, Hansi, warum soll denn heute übermorgen sein?« fragte Annemarie belustigt.
»Vaterli weiß farhum, niß wahr, Vaterli?« Die beiden Männer, der kleine und der große, blinzelten sich verständnisvoll an.
»Ein Geheimnis vor der Mutti?«
»Heimnis vor Muttißen!« Der kleine Kerl warf sich mit drolliger Wichtigkeit in die Brust.
»Ich weiß, warum heute übermorgen sein soll. Ich kenne Hansis Geheimnis!« schrie Vronli dazwischen. »Vater hat gestern gesagt, übermorgen ist euer Hochzeitstag. Und heute backen wir Kuchen dazu – juchhu!«
»Mutti möchte gern aufstehen, damit Vater noch mit ihr zusammen frühstücken kann, bevor er in die Klinik geht. Aber man kommt ja nicht mal aus seinem eigenen Bett raus vor dieser wilden Horde«, beschwerte sich Annemarie in glückseligem Mutterstolz.
»Ja, solche Gluckhenne hat's nimmer leicht mit ihren Küken«, neckte Rudi. »Ich muß dir halt zu Hilfe eilen, Herzle.« Der Vater packte Hansi rechts, Ursel links und expedierte sie, Vronli vor sich herschiebend, alle miteinander ins Kinderzimmer.
»Ruh ist im Land! Ich fertige inzwischen die Patienten ab, Annemie. In einer halben Stunde dann auf Wiederschaun.«
»Trinke vorher eine Tasse Kaffee, Rudi«, rief Annemarie ihrem Mann fürsorglich nach.
Dann begann auch sie Toilette zu machen.
Ruh ist im Land! Nun, darüber konnte man verschiedener Ansicht sein. Aus dem Kinderzimmer erklang ohrenbetäubender Krach. Hansi hatte den Stiefelknecht erwischt und ging damit auf die Fliegenjagd. Er war gerade ein so wilder Strick, wie es einst sein Onkel Klaus, dem er auch äußerlich recht ähnlich sah, gewesen war.
Klapp – – klapp – – – »Hansi, du wirst noch was entzweischlagen.« Das war Vronli, die stets die Große herausbiß.
Klapp – klapp –. »Au – – Wehweh – – –.« Gellendes Jammergeschrei ließ Annemarie, die gerade dabei war, die Flut ihrer Goldhaare zu bürsten, erschreckt Kamm und Bürste hinwerfen und in die Kinderstube stürzen.
»Was ist denn los, Kinder?«
»Wehweh – Lein-Usche Wehweh«, – bitterlich weinend wies Nesthäkchen der Mutter sein Fingerchen, das mit Hansis Stiefelknecht in unsanfte Berührung gekommen war.
»Mein armes Kleines, komm, Mutti wird heile, heile machen.« Annemarie nahm ihr schreiendes Nesthäkchen auf den Arm und ging mit ihm, das verletzte Fingerchen streichelnd, singend auf und ab:
»Heile, Kätzchen, heile,
Kätzchen hat zwei Beine,
Kätzchen hat einen langen Schwanz,
Morgen ist alles wieder ganz.«
Aber Annemaries oft bewährte Heilmethode in der Kinderstube wollte heute nicht verfangen. Klein-Ursel schrie weiter: »Wehweh!«
»Schäm' dich, Hansi, dem armen Schwesterchen solche Schmerzen zu machen. Du bist ein ganz ungezogener Junge!«
Das hätte Annemarie nicht sagen dürfen. Denn jetzt wurden Hansis Schleusen aufgezogen. Ein Zucken um die Mundwinkel, die Unterlippe schob sich vor, und dann ging's los. Arme Annemarie! Hansi heulte mit Nesthäkchen um die Wette. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr.
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