Nesthäkchen im Kinderheim
Nesthäkchen im Kinderheim
Nesthäkchen Band 3
© 1915 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Anmerkungen
Über die Autorin
Es war Frühstückspause. Ein ohrenbetäubendes Geschwirr von hellen durcheinanderrufenden Kinderstimmen schallte durch die achte Klasse.
»Annemarie, wieviel ist neun mal siebzehn« – »ist sieben mal vierzehn achtundachtzig oder achtundneunzig« – »ach Gott, ich habe ja so dolle Angst vor der Klassenarbeit« – die zarte braunhaarige Margot Thielen seufzte schwer und machte furchtsame Augen wie ein Häschen.
»Ich habe gar keine Bange, nicht für'n Sechser! Mein Bruder Hans hat gesagt, ich kann jetzt das große Einmaleins vorwärts und rückwärts, sogar im Schlafe!« Annemarie Braun, die Erste der achten Klasse, rief es und lachte dabei über das ganze runde Kindergesicht.
»Ja, du – du brauchst auch keine Angst zu haben, Annemie. Du schreibst sicher wieder null Fehler und bekommst ›sehr gut‹ im Rechnen,« Margot sah voll Bewunderung auf ihre Freundin.
»Wenn's nur nicht grade die Probearbeit für die Osterzensur wäre!« Ilse Hermann hob den Kopf mit den blonden Haarschnecken von dem Rechenbuch, aus dem sie ganz schnell noch sämtliche Zahlenweisheit in den letzten Minuten vor der gefürchteten Arbeit zu erhaschen suchte.
»Annemarie, könntest du nicht jetzt in der Pause flink noch ein bißchen mit uns üben – ach ja, bitte, bitte, tue es doch!« so bettelte und rief es durcheinander.
Die Erste ließ sich nicht lange bitten. Das Rechenbuch unter den Arm geklemmt, den Kopf mit der lustigen Stupsnase und den abstehenden goldblonden Rattenschwänzchen steif in die Luft gebohrt, so schritt sie würdevoll zum Katheder.
Die Klasse jubelte. Denn Annemarie ahmte Fräulein Neudorf, die Rechenlehrerin, in Gang und Haltung treffend nach. Und als sie jetzt gar noch in der Hannoveraner Mundart der Lehrerin zu sprechen anhob: »Aber Kinder, macht nicht solchen S–pektakel, Ihr s–tört die anderen Klassen,« da stieg die Ausgelassenheit und der Jubel aufs höchste.
»Ruhe – seid s–till, Kinder, wieviel ist neun mal dreizehn. Marlene Ulrich,« mit durchdringend heller Stimme übertönte Annemarie den Radau.
»Hundertsieben,« die dunkelblauen Augen der schwarzzöpfigen Marlene, die noch eben vor Übermut gesprüht, sahen plötzlich ganz ernst drein. Die drohende Rechenstunde begann die Ausgelassenheit wieder zu dämpfen.
»Fünf mal neunzehn, Hilde Rabe – falsch, Marianne Davis – sieben mal sechzehn – acht mal vierzehn« – Schlag auf Schlag, mit rasender Schnelligkeit fielen die Fragen aus dem Munde der gestrengen kleinen Lehrerin. In lachender Aufregung tönten die Antworten zurück, eine überschrie die andere.
Da war es kein Wunder, daß niemand in diesem Tumult auf die Glocke des Schuldieners Piefke achtete, welche die beginnende Stunde anzeigte. Annemarie Braun, die als Erste das Amt hatte, nach dem Leuten für Ruhe in der Klasse zu sorgen, machte den größten Lärm.
»Viermal siebzehn – sei s–till, Marianne – Hilde, s–pringe in der S–tunde nicht vom S–tuhl – Margot, s-teh' auf, wenn ich mit dir s–preche – –«
»Ruhe – was soll denn der S–pektakel eigentlich bedeuten – S–tille bitte ich mir sofort aus!« mittenhinein in das Lachen und Rufen erklang es plötzlich streng von der Tür her.
Im Augenblick verwandelte sich das Jubeln und Schreien in atemlose herzbeklemmende Stille. Die Mädchen schnellten von ihren Sitzen in die Höhe, mit entsetzten Augen blickten sie auf die im Türrahmen stehende Lehrerin.
Die Entsetzteste von allen aber war Annemarie Braun. Ihre Blauaugen starrten Fräulein Neudorf gradezu entgeistert an – Himmel, hatte die Lehrerin etwa gehört, daß sie ihr nachgemacht hatte? Wie angewurzelt blieb Annemarie droben auf dem Katheder, sie dachte nicht daran, ihren Platz aufzusuchen.
Kopfschüttelnd trat die Lehrerin näher.
»Ja, möchtet ihr mir vielleicht erklären, was euer lautes Benehmen bedeuten soll? Wo ist die Erste?«
Annemarie trat, das Stupsnäschen gar nicht mehr lustig emporgehoben, sondern schuldbewußt zur Erde gesenkt, näher.
»Du sorgst ja recht nett für S–tille vor der S–tunde. Ans–tatt den andern mit gutem Beis–piel voranzugehen, s–tichst du noch alle anderen beim S–pektakelmachen aus. Du wirst schwerlich als Erste zur Osterversetzung bes–tehen können!«
Keinem der Kinder fiel es ein, die Sprache der Lehrerin, die man noch eben bei Annemarie bejubelt, noch lächerlich zu finden. Am wenigsten Annemarie selbst. Aus deren noch vor kurzem lachenden Augen begann es zu tropfen, währen sie sich langsam zu ihrem Platz zurückschob.
»Lieber Gott, mache doch bloß, daß Fräulein Neudorf nicht gehört hat, was ich gesagt habe – ich muß mich ja sonst zu Tode schämen!« Während sich dieses stumme Gebet aus Annemaries Seele zum blauen Frühlingshimmel emporrang, klang das gefürchtete »Rechenhefte heraus zur Klassenarbeit!« vom Katheder.
Poch – poch – schneller schlugen fünfzig Kinderherzen. Mit gezückter Feder saß eine jede vor ihrem Heft.
Und nun ging's los – Exempel auf Exempel. Die Wangen der Mädel begannen vor Eifer zu glühen, die Augen zu blitzen. Jede gab sich Mühe, ihr Bestes für das Osterzeugnis zu leisten.
Nur eine, sonst die eifrigste und begabteste im Rechnen, war heute nicht recht bei der Sache. Das war die Erste der Klasse. Annemarie vermochte ihre Gedanken nicht fest auf die Aufgaben zu richten. Immer wieder entwischten sie ihr zu den Begebenheiten vor der Stunde.
Grade bei Fräulein Neudorf, der strengsten Lehrerin der Schule! Wenn es noch bei Fräulein Hering, ihrer Lieblingslehrerin gewesen wäre, die hätte wohl eher ein Auge zugedrückt.
Sah Fräulein Neudorf sie nicht strafend an, oder kam ihr das bloß so vor? Nein, ganz bestimmt, die Lehrerin machte ein furchtbar ernstes Gesicht. Wenn man nur genau wüßte, woran man wäre! Dann könnte man sich doch wenigstens nach der Stunde entschuldigen – aber diese gräßliche Ungewißheit – Herrgott, da hatte Annemarie vor lauter Überlegen und Grübeln gar nicht gehört, wie die letzte Aufgabe hieß.
War es fünf mal dreizehn oder fünf mal siebzehn gewesen? Annemarie hatte nur noch den Klang im Ohr, ihr Bewußtsein hatte die Zahl nicht aufgefaßt. Hilflos blickte sie um sich.
»Du – Margot, siebzehn oder dreizehn?« hinter dem vorgehaltenen Löschblatt ward es aufgeregt geflüstert.
Aber ehe die Freundin noch antworten konnte, stand schon Fräulein Neudorf neben der kleinen Unaufmerksamen.
»Annemarie Braun, schließe dein Heft. Wer bei der Probearbeit mit der Nachbarin in Verbindung s–teht, hat die Absicht zu täuschen. Ans–tatt dir Mühe zu geben, deinen Fehler von vorhin durch Eifer und Fleiß gut zu machen, muß ich dich jetzt noch unter Tadel schreiben. Die Erste der Klasse – ein beis–pielloser S–kandal!« Jetzt irrte sich Annemarie nicht, die Lehrerin sah sie so strafend an wie noch nie.
»Fräulein Neudorf, ich wollte Sie wirklich nicht täuschen – ich – hatte bloß die Aufgabe vergessen – wirklich!« Die blauen Kinderaugen, die sich vergeblich mühten, die Tränen zurückzuhalten, blickten voll überzeugungsvoller Ehrlichkeit zu der Zürnenden auf.
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