Nesthäkchen und ihre Puppen
Nesthäkchen und ihre Puppen
Nesthäkchen Band 1
© 1913 Else Ury
Illustrationen Franz Kuderna
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Über die Autorin
1. Kapitel
Puppenmütterchen
Habt ihr schon mal unser Nesthäkchen gesehen?
Es heißt Annemarie, Vater und Mutti aber rufen es meistens »Lotte«. Ein lustiges Stupsnäschen hat unser Nesthäkchen und zwei winzige Blondzöpfchen mit großen, hellblauen Schleifen. »Rattenschwänzchen« nennt Bruder Hans Annemaries Zöpfe, aber die Kleine ist ungeheuer stolz auf sie. Manchmal trägt Nesthäkchen auch rosa Haarschleifen, und die Rattenschwänzchen als niedliche, kleine Schnecken über jedes Ohr gesteckt. Doch das kann es nicht leiden, denn die alten Haarnadeln pieken. Sechs Jahre ist Annemarie vor kurzem geworden, ihre beiden Beinchen stecken in Wadenstrümpfen und hopsen meistens. Keinen Augenblick stehen sie still, geradeso wie ihr kirschrotes Mäulchen. Das schwatzt und fragt den ganzen lieben Tag, das lacht und singt, und nur ganz selten mal verzieht es sich zum Weinen.
So sieht unser Nesthäkchen aus, und wenn ihr in Berlin lebt, könnt ihr es jeden Tag mit Fräulein in den Tiergarten gehen sehen.
In einem schönen, großen Hause wohnt Klein-Annemarie, in einer langen Straße, durch die elektrische Bahnen bimmeln. Ein Gärtchen ist vor dem Hause, aber keiner darf hinein, das erlaubt der Portier nicht. Er selbst aber kann sooft darin herumspazieren, wie er nur Lust hat, das Gras schneiden, die Beete begießen und sogar das Gitter mit schöner neuer Ölfarbe anstreichen. Darum glaubt Annemarie, daß der Portier beinahe so viel ist wie der Kaiser. Und wenn sie nicht Muttis Nesthäkchen wäre, dann würde sie am allerliebsten Portier sein. Manchmal aber auch Konditor.
Zwei größere Brüder hat Annemarie, den wilden Klaus, der nur zwei Jahre älter ist als sie, und den großen Quartaner Hans, der sogar schon Latein kann. Ihr Hänschen liebt die Kleine über alles, wenn er sie auch öfters mal neckt, während es mit Kläuschen nur allzuoft Krieg gibt.
Ach, was ist das für ein schönes, warmes Nest, in dem das Nesthäkchen daheim ist. Wenn der Vater abgespannt von der Praxis nach Hause kommt, denn Annemaries Papa ist ein viel beschäftigter Arzt, und sein kleines Mädchen springt ihm jubelnd an den Hals, dann hat er alle Müdigkeit vergessen. Er lacht und scherzt mit ihr, ja, er setzt sie sogar auf seine Schultern und reitet mit dem jauchzenden Ding durch sämtliche Zimmer. Sagt Mutti dann: »Du verwöhnst unsere Lotte zu sehr, Vater, sie ist schon viel zu groß dazu«, dann drückt er seinen Liebling nur um so fester ans Herz und meint lächelnd: »Es ist doch unser Kleinstes!«
Wenn aber der Vater mal davon anfängt, daß es nun auch für Annemarie bald Zeit sei, in die Schule zu gehen, dann breitet Mutti ihre Arme um das Töchterchen und bittet: »Laß sie mir doch noch ein Weilchen zu Hause, sie ist ja so zart und doch unser Nesthäkchen!«
Ja, Nesthäkchen wird von allen Seiten ein wenig verwöhnt. Wenn Fräulein auch noch so viel zu tun hat, sie wird nicht müde, Annemies tausend Fragen zu beantworten. Dafür hat die Kleine aber auch ihr Fräulein ganz schrecklich lieb.
Hanne, die Köchin, schmunzelt über das breite, rote Gesicht, wenn Annemie ein bißchen zu ihr in die Küche herauskommt, weil sich die Hanne so ganz allein am Ende langweilen könnte. Ob das kleine Fräulein ihr auch noch so zwischen ihren Töpfen, Löffeln und Quirlen kramt, Hanne wirft Annemarie nicht raus. Dabei macht sie doch mit den beiden Jungen nicht viel Umstände und bringt sie öfters mal auf den Trab.
Auch Frida, das Stubenmädchen, läßt sich die Gesellschaft der Kleinen beim Plätten, Maschinenähen und Stubenbohnern gern gefallen.
Der gute Bruder Hans findet trotz seiner vielen Schularbeiten noch Zeit, dem Schwesterchen Schiffchen zu machen und Kreiselstöcke zu fabrizieren.
Nur Klaus meint, daß Annemie zu sehr verwöhnt wird und ist für strengere Erziehung. Aber meistens endigt diese mit einer Balgerei.
Puck, das niedliche Zwerghündchen, und Mätzchen, das zitronengelbe Vögelchen, zeigen ebenfalls eine besondere Vorliebe fürs Nesthäkchen. Puck läßt sich geduldig von ihm Ohren und Schwänzchen zausen und ist stets zu allen Spielen bereit. Mätzchen aber singt jubelnd mit der Kleinen um die Wette.
Wer aber, glaubt ihr wohl, hat Klein-Annemarie am liebsten im ganzen Hause? Vater und Mutti natürlich, und dann – alle ihre Puppen.
Die ziehen den Mund vor Freude von einem Ohr zum andern, sobald das kleine Mädchen in die Kinderstube tritt. Was ist Annemie aber auch für ein gutes Puppenmütterchen! Jedes Kind ihrer zahlreichen Puppenfamilie hat sie in ihr zärtliches Herz geschlossen.
Da ist zuerst Irenchen, das ist ihre Älteste, denn sie besitzt schon eine Schulmappe mit Schiefertafel und Heften. Irenchen macht ihrer kleinen Mama jetzt viel Sorge. Sie hat ihre schönen roten Backen verloren, seitdem Nesthäkchen ihr neulich das Gesicht mit Bimsstein abgescheuert hat. Das Puppenkind sollte zum erstenmal mit Tinte schreiben, und hatte dabei die Nase zu tief in das Schulheft gesteckt, über und über hatte sie sich mit Tinte eingeschmiert, das unbedachtsame Irenchen, und die weiße Schürze ihrer kleinen Mama dazu. Annemarie schalt auf Irenchen, und Fräulein schalt auf Annemie. Fräulein begann Annemies Tintenschürze mit Zitrone zu bearbeiten, und Annemie das Tintengesicht ihres Irenchens mit Bimsstein. Au – tat das weh! Irenchen schrie wie am Spieß. Aber energisch rubbelte Nesthäkchen weiter, denn »wer nicht hören will, muß fühlen«. Ganz blaß ist das arme Puppenkind noch davon, und Annemie meint bekümmert zu Fräulein: »Ich glaube, die Schulluft bekommt dem Kinde nicht!«
Auch um Mariannchen, das zweite Töchterchen, sorgt sich Nesthäkchen. Die Kleine hat seit einigen Tagen eine schwere Augenkrankheit und muß sicher nächstens in eine Puppenklinik. Die Schlafaugen sind fest zugeklebt und gehen nicht mehr auf. Und das schlimmste ist, daß die kleine Mama selbst die Schuld an der Krankheit trägt. Oder vielmehr Klaus, denn der hat ihr geraten, dem Kinde richtige Wimpern mit flüssigem Gummi anzukleben. Und nun sind Mariannchens Augen ganz verkleistert, oder vielmehr »vereitert«, wie der vierbeinige Doktor Puck mit bedenklichem Schwanzwedeln feststellte.
Ja, solch kleines Puppenmütterchen hat schon seine Sorgen mit soviel Jören! Der Puppenjunge Kurt ist ein furchtbar wilder Strick, kein Tisch ist ihm zu hoch, um davon herunterzuspringen. Bald zerschlägt er sich die Nase, bald hat er ein tiefes Loch im Kopf, und einen halben Fuß hat er sich auch schon abgeschlagen, der Schlingel.
Die schwarze Lolo, das Negerkind, muß wohl die Unsauberkeit und Unordentlichkeit aus ihrer Heimat Afrika mitgebracht haben. Wenn Annemarie sie eben erst sauber angezogen hat, im nächsten Augenblick hat sie sich schon wieder schmutzig gemacht. Bald verliert sie einen Schuh, bald einen Strumpf. Neulich sogar die Höschen! Mitten im Tiergarten war's, Klein-Annemarie hat sich schrecklich geschämt, denn sehr weiß waren sie auch nicht mehr.
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