Nesthäkchen und der Weltkrieg
Else Ury
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel. Nesthäkchen lernt Opfer bringen.
2. Kapitel. »Extrablatt!«
3. Kapitel. Wie es in Nesthäkchens Schule aussah.
4. Kapitel. Für unsere Vaterlandsverteidiger.
5. Kapitel. Nesthäkchen straft Japan.
6. Kapitel. Eine kleine Patriotin.
7. Kapitel. Nesthäkchen hilft den ostpreußischen Flüchtlingen.
8. Kapitel. Eine lebendige Puppe.
9. Kapitel. Junghelferinnenbund.
10. Kapitel. Vera.
11. Kapitel. Weihnachtsabend im Lazarett.
12. Kapitel. Endlich Nachricht.
13. Kapitel. Gute Vornahme.
14. Kapitel. Streckt eure Vorräte!
15. Kapitel. Reichswollwoche.
16. Kapitel. Nesthäkchen macht ihr Unrecht gut.
17. Kapitel. Das Kriegskind.
18. Kapitel. Butterpolonäse.
19. Kapitel. Deutsche Sommerzeit.
Impressum
1. Kapitel. Nesthäkchen lernt Opfer bringen.
Glutheiß war es auf dem Balkon. Trotzdem derselbe auf der Schattenseite lag, fühlte man die sengende Hitze, mit der die Augustsonne die Straßen Berlins einheizte, selbst hier oben.
Ein alter Frauenkopf mit silbernem Scheitel und ein goldblonder Kinderkopf neigten sich über graue Strickarbeit. Emsig klapperten die Nadeln in den Händen der alten Dame, während die Kinderfinger nur widerwillig die dicke Wollarbeit förderten. Immer langsamer bewegten sich die braungebrannten kleinen Hände, und schließlich schleuderte Annemarie den kaum begonnenen Pulswärmer mit jähem Entschluß auf den Steinboden.
»Puh – ich ersticke!« Das seegebräunte runde Kindergesicht, das sich luftschnappend in die Höhe hob, sah nicht weniger rot aus als das feuerrote Musselinkleid, welches das elfjährige Mädchen trug. »Liebstes, einziges Großmuttchen, was sollen denn bloß unsere Soldaten bei dieser dollen Bärenhitze mit den dicken Pulswärmern? Ich glaube, ich kann meine Strickarbeit ruhig bis zum Winter verschieben.« Das kleine Mädchen ließ die Tat dem Wort auf dem Fuß folgen. Ohne sich darum zu kümmern, daß Puck, das kleine weiße Zwerghündchen, an der auf dem Boden liegenden Wollarbeit zu zerren und zu beißen begann, sah sie untätig den lustigen Rauchwölkchen nach, die aus den Schornsteinen Berlins zu dem fahlen Augusthimmel emporwirbelten.
»Herzchen, wenn wir erst zum Winter die Finger zu regen beginnen, müssen unsere armen Truppen in dem kalten Rußland frieren. Jetzt heißt es fleißig sein, solange wir noch Sommer haben, damit bis zum Winter alles fertig ist.« Schneller ließen Großmamas Finger die Stricknadeln klappern, als gelte es, gleich ein ganzes Regiment gegen russische Kälte zu vermummen.
»Aber mir ist doch so doll heiß!« Das Enkelchen warf die frischen Lippen unmutig auf. »Ich muß mich überhaupt erst wieder an die olle Berliner Luft gewöhnen. Wenn man ein ganzes Jahr lang an der Nordsee gewesen ist, wo immer frischer Seewind geweht hat, dann drückt die Stadtluft auf den Kopf, hat Vater gesagt.«
»Nun höre mal, mein Herzchen«, Großmamas gütiges Gesicht wandte sich liebevoll dem hübschen Blondkopf zu. »Glaubst du, daß unsere braven Feldgrauen, die täglich mit Jubel und Begeisterung in den Krieg hinausziehen, nicht auch durch die Augusthitze leiden? Hast du nicht ihren schweren Ranzen gesehen, und meinst du, daß der Helm nicht mehr auf den Kopf drückt als die Großstadtluft? Und doch singen und jubeln die Braven, trotzdem die tagelange Fahrt in den engen, glühenden Eisenbahnwaggons zum Kriegsschauplatz gewiß keine Annehmlichkeit ist. Du hast es ja mit eigenen Augen gesehen, Herzchen, als wir Sonntag abend dem Vater das Geleit zum Bahnhof gaben. Wollen wir Daheimgebliebenen uns von unfern tapferen Kriegern beschämen lassen? Sollten wir nicht auch etwas Unbequemlichkeiten für sie, die ihr Leben für uns hingeben wollen, in den Kauf nehmen und jedes Opfer für sie bringen?« Großmamas liebe, klare Augen sahen ernsthaft in die strahlenden Blauaugen des kleinen Mädchens.
Das mußte den Blick beschämt senken.
»Wenn ich groß wäre, würde ich bestimmt auch Opfer für unser Vaterland bringen«, meinte Annemarie schließlich ungewöhnlich nachdenklich. »Dann würde ich Schwester werden und die Verwundeten pflegen wie Tante Lenchen. Ach, Großmuttchen, wäre das schön! Denk' mal, dann hätte ich mich nicht gleich wieder von Vati, den ich doch ein ganzes Jahr lang nicht gesehen habe, trennen müssen! Mit ihm wäre ich zusammen in den Krieg gezogen – au, fein wäre das!« Die strahlenden Augen der Kleinen blitzten unternehmungslustig.
»Es ist nicht nötig, mein liebes Kind, daß man groß ist und Großes leistet in dieser gewaltigen Zeit der Erhebung Deutschlands. Auch die Kinder können im kleinen Opfer bringen und ihr Scherflein dazu steuern. Nichts ist zu gering, auch das winzigste Steinchen, das man zu dem großen Bau der Kriegsarbeit beiträgt, ist von Wert.« Sprechend wanderte Großmamas Blick zu dem zu Boden geschleuderten Pulswärmer, mit dem sich Puck sachverständig beschäftigte.
Annemarie bückte sich schnell und entriß ihrem vierfüßigen Freund das verhedderte Strickzeug.
»Wenn ich doch wenigstens ein Junge wäre, dann könnte ich ganz anders helfen als hier bloß bei der dummen Strickerei. Wie gut hat's Hans als Pfadfinder! Der kann den ganzen Tag auf dem Bahnhof sein und die durchziehenden Soldaten verpflegen. Das ist tausendmal lustiger, als sich mit den mopsigen Pulswärmern quälen.« Vergeblich bemühte sich die Kleine, wieder Ordnung in die von Puck herabgezerrten Maschen zu bringen.
Großmama mußte sich erbarmen.
»Ich glaube nicht, daß der Hans gar so leichte Arbeit bei seinem Bahnhofsdienst in diesen heißen Augusttagen hat. Müde und erhitzt genug kommt er des Abends heim. Und was das Lustige anbelangt, Herzchen, gerade etwas, was uns schwer fällt, hat doppelten Wert. Unser eigenes kleines Ich und all unsere persönlichen Wünsche müssen wir jetzt hintenan setzen, nur an das Wohl unseres Vaterlandes und seiner braven Verteidiger dürfen wir denken. Sonst ist es kein richtiges Opfer.«
Großmama seufzte unhörbar. Ja, sie selbst hatte all ihr Wünschen in diesen ersten schweren Augusttagen unterdrücken gelernt. Beide Schwiegersöhne hatte sie ins Feld ziehen lassen müssen. Den einen, der Landwirt in Schlesien war, als Reserveoffizier gen Osten und Annemaries Vater, Doktor Braun, als Stabsarzt nach Frankreich zu. Die Sorge um die ins Feld Ziehenden, die teilte sie mit Tausenden von deutschen Müttern, aber eine andere, größere bedrückte Großmamas Herz.
Was war das Schicksal ihrer Tochter Elsbeth, der Mutter Annemaries?
Seitdem nicht nur Frankreich, sondern auch England in schnödester Weise sich zu Deutschlands Feinden geschlagen, hatte die alte Dame keine ruhige Minute mehr. Annemaries Mutter befand sich gerade bei Ausbruch des Krieges zu Besuch bei Verwandten in England. Würde es ihr möglich sein, unbehindert heimzukehren? Oder würde man sie dort als Deutsche festhalten? Das Kind, Doktors Nesthäkchen, ahnte zum Glück nichts von Großmamas Angst und Aufregung. Das stürzte bei jedem Klingelzeichen zur Tür, in der Hoffnung, die Mutter käme zurück. Oder doch wenigstens eine Nachricht von ihr.
Aber auch diese Sorge um die Tochter stellte die alte Dame großherzig den allgemeinen Sorgen um das bedrohte Vaterland hintenan. Ringsum neidische Feinde, wie sollte sich Deutschland bei aller Tapferkeit und Begeisterung da wohl behaupten? Masche um Masche glitt von einer Nadel zur anderen, Gedanke auf Gedanke glitt durch den alten Kopf.
Auch durch den jungen Kopf der kleinen Enkelin zuckten und sprangen die Gedanken, wenn sie auch weniger ernster Natur waren, als dies bei Großmama der Fall war.
Nur schwer fand sich Doktors Nesthäkchen jetzt in diesem Wirrwarr der Geschehnisse zurecht. Es war ja alles so schnell gegangen. Die Flucht aus dem Nordseebad Wittdün, wo sie ein ganzes Jahr im Kinderheim nach überstandener Krankheit zugebracht. Der jähe Wechsel zwischen der Stille des Seebades und dem lauten Kriegstumult in Berlin. Das Wiedersehen nach dem langen Trennungsjahr mit dem geliebten Vater, das nur wenige Stunden währte. Dann winkte er in feldgrauer Uniform seinem Nesthäkchen die letzten Grüße aus dem vollgepfropften Truppenzuge zu, der ein Scherzschild trug: »Durchgehender Wagen nach Paris.«
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