Er beobachtet ihn durch die Glastür, wie er aufgeregt in den Hörer spricht.
Der Schmuckhändler besitzt genügend Erfahrung darin, wie man in der Schweiz das Recht behandelt, und wie zwecklos es dabei ist, auf die allgemeinen Menschenrechte zu verweisen. Auf einer unteren Ebene gelten die hehren Motive meist nicht.
Als er im Begriff ist, die Schmuckstücke zurück in den Koffer zu legen, hört er plötzlich eine Stimme in seinem Rücken.
„Verzeihen Sie den ungestümen Einsatz meines Angestellten! Sie sind kein Bettler, das sehe ich. Ich betrachte ihr Kunsthandwerk mit Respekt.
Leider haben wir seit einigen Monaten größere Probleme mit Bettelei und müssen uns daher schützen, unsere Gäste möchten verständlicherweise nicht belästigt werden. Taschendiebe hatten wir auch, es gab zahlreiche Beschwerden.“
Gaspard steht vom Pflaster auf und sieht sich dem Hotelier Ronald Studer gegenüber, der ihn freundlich anschaut.
„Wenn Sie mir den Gefallen tun und sich für ihre Ware ein anderes Plätzchen suchen, kaufe ich Ihnen eine Halskette ab. Einverstanden?
Na, zeigen Sie mal her, was Sie da in ihrem Köfferchen haben! Oh, die mit dem blauen Anhänger gefällt mir. Eine Occasion, oder?“
Scherzhaft bietet der Hotelier ihm einen zehn Franken Schein für die Halskette an, doch der Schmuckhändler zeigt sich zum Scherzen nicht aufgelegt.
„Ziehen Sie nicht solch ein Gesicht, junger Mann. Ein harmloser Scherz, echtes Silber?“
Studer sagt es mit einem komplizenhaften Grinsen, so als wisse er über die Beschaffenheit des Metalls Bescheid.
„Sterling Silber. Ich verarbeite gestempeltes Edelmetall.“
Das Grinsen des Hoteliers wird immer breiter.
„Selbstverständlich. Ist die Steuer im Preis mit inbegriffen?“
Gaspard, vollkommen überrascht von dieser Frage, nickt wenig überzeugend.
„Sehen Sie, Silberschmied, deshalb unterscheiden sich die Rechte von Menschen. Der Gehsteig hier wird regelmäßig gefegt, die Abfalltonnen werden geleert und die Laternen abends eingeschaltet.
Wenn einer keine Steuern zahlt, der Steuern zahlen könnte, sollte der dann alles, wie wir Steuerzahler, mit benützen dürfen?“
Jede Spur von Großzügigkeit weicht aus dem bärtigen Gesicht des Hoteliers im feinen Tuch, auf einmal wirkt er hart und abweisend.
Mit betont honoriger Geste befördert Studer eine fünfzig Franken Banknote aus seiner Brieftasche und hält sie dem Schmuckhändler unter die Nase.
„Für Ihre Sterling Silberkette. Und damit verschwinden Sie!“
Gaspard packt seelenruhig seine Utensilien wieder ein, ohne dass er der Banknote des Hoteliers die geringste Aufmerksamkeit schenkt.
Die Silberkette behält er in der Hand.
„Vernünftig, dass Sie einpacken, junger Mann. Deshalb möchte ich Ihnen einen Tipp geben, wo Sie ihren Silberschmuck versilbern könnten.“
Er macht eine bedeutungsvolle Pause und setzt ein schalkhaftes Lächeln auf.
„In der Bahnhofstraße, Ecke Postomat, unter dem Hinweisschild aus Messing, das die Bürger von Brig an die Unwetterkatastrophe von 1993 in ihrer Stadt erinnert. Da staunen die Touristen, wie viele Meter hoch das Geschiebe aus Schlamm, Schutt und Geröll, das sich damals in unser Tal wälzte, in den Straßen und auf den Plätzen lag.
Manchen passt dieses Bild perfekt in ihre Vorstellung vom Klimawandel. Aber die Wurst wird nicht so heiß gegessen, wie sie gebrüht wird.
Touristen schauen sich die Markierung an der Hauswand dort oben gerne an. Sobald ihr staunender Blick wieder zu Boden fällt, stehen Sie mit ihrem Lappen voller Sterling-Silber mitten im Beet. Was Besseres kann ihnen nicht passieren. Was glauben Sie, wie kauffreudig solche Leute sind?“
Gaspard hält seinen Koffer in der einen Hand, in der anderen die Halskette. Er schaut Ronald Studer herausfordernd an.
„Die Silberkette schenke ich ihrer Frau, Herr Studer. Mit schönem Gruß vom Italiener. Als Steuerabgabe für die Benutzung ihres Gehsteigs. Das Trottoir gehört Ihnen doch, oder?“
Er drückt dem verdutzten Hotelier die Silberkette in seine große Hand mit den gepflegten Fingern, nimmt den Schmuckkoffer auf und eilt davon.
3. Enttäuschung
Nach nur drei Stunden Nachtschlaf erwacht Vittorio.
Seltsame Geräusche dringen an sein Ohr, als ob seine Vermieterin im Flur der verwinkelten Wohnung ein Konzert aus Töpfen, Kochlöffeln und Topfdeckeln veranstaltet.
Den Itaker Studenten aus Boshaftigkeit mit seiner Freundin nicht ausschlafen lassen, so kommt ihm das vor. Rache, weil er am Wochenende immer länger schläft und den Treppenaufgang nicht, wie vereinbart, gewischt hat.
Dann fällt ihm ein, dass sie an manchen Vormittagen heiße Knödel mit Gulasch auf dem Wochenmarkt verkauft, an welchen Tagen genau, fällt ihm nicht ein.
Er tastet neben sich auf dem schmalen Bett, das mehr ein Sofa als eine richtige Bettstatt ist, wo er Maria schlafend wähnt, die in sein bescheidenes Zimmer mitgekommen war, doch die Kissen sind leer.
Erschrocken fährt er auf und sucht nach ihr, ob sie zur Toilette gegangen ist. Ihre Jeans, ihr T-Shirt und ihre Jacke sind verschwunden, stattdessen liegt ein Zettel auf seinem Minischreibtisch.
Er springt aus dem Bett und liest die Nachricht, die sie ihm hinterlassen hat.
„Lieber Vittorio! Ich kann hier nicht schlafen, bekam einen Alptraum. Bitte sei nicht böse. Es war eine wundervolle Nacht mit dir. Ich hätte dir vorher sagen sollen, dass ich heute ganz früh verreise, aber ich wollte dir gestern die Laune nicht verderben.
Wir sehen uns erst zum neuen Semester wieder, Lieber! Bussi, Maria.“
Vittorio lässt sich rückwärts auf sein Bett fallen, bleibt einen Moment lang wie betäubt liegen und starrt an die Decke mit dem alten Stuck und den malerischen Spinnweben.
„Wäre auch zu schön gewesen.“
Wieder lärmt es vom Flur herein, diesmal das Getöse eines Staubsaugers älterer Bauart. In seinen Ohren hört sich das Sauggeräusch an wie der Lärm eines Düsentriebwerks. Wutentbrannt reißt er die Tür zum Flur auf und lässt seinem Ärger freien Lauf.
„He, Kuchldragona, samma bald fertig mit der Knedlakademie?“
„Obacht, Hupfa! Zieh dir gefälligst was an, wie schaust denn aus?
Nockabatzl, deine Tussi ist auf ihren Quadratlatschn längst raus geschlichen. Damenbesuche sind im Preis nicht inbegriffen, in der Quetschn ist kein Platz für derlei Geschichten.“
Vittorio knallt der Vermieterin die Zimmertür vor der Nase zu. Er lauscht an der Tür, ob sie noch etwas zu vermelden hat.
„Giftnigl!“
Die Stimme der beleibten Mittfünfzigerin ist in der Lage, Kristallglas zum Bersten zu bringen. Ihr muffiger Geruch durchzieht die ganze Wohnung, was die höhere Tochter vertrieben haben dürfte. Sein Groll steigert sich von Minute zu Minute, bis er hört, wie sich ihre Schritte in Richtung der Küche entfernen. Enttäuscht sinkt er auf seinen einzigen Stuhl.
„Hat sie das mit Absicht gemacht?“
Einmal senkrecht im Fahrstuhl bis in den Himmel, und dann? Ausstieg im Nichts, freier Fall ins Bodenlose. Der Sommer ist gelaufen. Ihre Rache für seinen Schabernack mit dem präparierten Morignone Ring?
„Schnee von gestern!“
Er zwängt sich wieder in seine enge Jeans und zieht ein grünes Polohemd darüber an, fährt sich vorm blinden Spiegel mit den Fingern durch die Haare und wischt sich den letzten Schlaf aus den Augen.
„Über den Vorfall während der Exkursion wollte sie nicht mit mir sprechen. Was soll ich da machen?“
Erst jetzt fällt ihm auf, dass er ihre Anschrift nicht kennt, nur eine Emailadresse von der Uni. Er schaut nach, ob sie ihm eine Mail gesendet hat. Nichts, keine Nachricht, wohin sie heute verreist. Enttäuscht klappt er seinen Laptop zu.
„Sie lässt mich die ganzen Semesterferien lang zappeln. Perfekt!“
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