Golina tritt mit Nano vor die Tür.
„Ich war das!“, sagt ihr Sohn stolz.
„Bringt sie in den Hochsicherheitstrakt!“, ruft Nummer Null, dessen rote Augen böse funkeln.
Golina und Nano werden von ihren großen Brüdern zu der einzigen Tür in der Mauer eskortiert, die von zwei weiteren Golems bewacht wird.
„Dorfbewohnern ist das Verlassen des Dorfs verboten“, sagt einer der beiden.
„Mach auf, Einundachtzig“, erwidert Golinas großer Bruder. „Wir bringen die beiden in Sicherheitsverwahrung.“
Der Golem öffnet die Tür und tritt zur Seite, und zum ersten Mal seit vielen Tagen sieht Golina wieder die Welt auf der anderen Seite der Mauer. Die Tür führt auf die Wiese neben der Schlucht. Eine schwarze Stelle im Gras ist zu sehen, wo vor einigen Wochen der Tisch mit den Geburtstagsgeschenken stand, die sich die Dorfbewohner gegenseitig schenken wollten. Durch eine Unachtsamkeit von Priester Magolus explodierte tragischerweise das Überraschungsfeuerwerk, das die Hexe Ruuna vorbereitet hatte, und die Geschenke verbrannten ebenso wie die Bibliothek.
Neben der Schlucht ragt eine Reihe von würfelförmigen Gebäuden aus Metall auf. Jedes hat eine Tür aus Metall, jedoch keine Fenster. Golinas Herz sinkt, als sie begreift, dass genügend dieser Gebäude vorhanden sind, um jeden Dorfbewohner einzeln einzusperren. Ihre Hoffnung, dass sie mit Primo zusammen sein kann, wird sich also nicht erfüllen.
„Los, weiter!“, sagt Nummer Zweiundvierzig unfreundlich und schubst Golina vorwärts.
Sie macht einen Schritt, stolpert über etwas, das am Boden liegt, und schlägt hin.
„Hast du eine Fehlfunktion, Zweiundvierzig?“, ruft Nanos großer Bruder, der die Nummer Neunzehn trägt. „Du kannst doch die Dorfbewohnerin nicht umwerfen! Sie könnte sich dabei verletzen!“
„Führe Systemüberprüfung durch“, erwidert Zweiundvierzig. „Resultat negativ. Keine Fehlfunktion gefunden. Ich habe das Individuum nicht umgeworfen. Sie ist gestolpert.“
Während die beiden reden, rappelt sich Golina auf. Dabei berührt sie mit der Hand etwas Weiches. Merkwürdig: Es fühlt sich so an, als läge dort ein Stück Stoff. Es muss der Grund dafür sein, dass sie hingefallen ist. Doch es ist nichts zu sehen!
Sie hebt den unsichtbaren Stoff auf, während sie aufsteht.
„Bist du verletzt?“, fragt ihr großer Bruder.
„Negativ“, antwortet Golina. „Ich meine, nein.“
Während sie weiter auf die Metallhäuser zugehen, betastet Golina den merkwürdigen Stoff in ihrer Hand. Er fühlt sich an wie ein Kleid. Aber wieso kann sie es nicht sehen?
„Golina!“, ruft plötzlich eine vertraute Stimme.
„Primo!“, erwidert sie überglücklich. „Wo bist du?“
„Ruhe!“, kommandiert Nummer Zweiundvierzig. „Den Sicherheitsverwahrten ist das Sprechen untereinander verboten!“
Primo ignoriert die Anweisung. „Wie geht es dir, Golina? Und wie geht es Nano?“
„Uns geht es gut“, erwidert Golina. „Na ja, einigermaßen jedenfalls. Das Leben im Dorf ist ...“
Weiter kommt sie nicht, denn ihr großer Bruder packt sie und hält ihr mit einem metallenen Arm den Mund zu.
„Lass meine Mama los!“, schreit Nano, doch das führt nur dazu, dass auch er gepackt und zum Schweigen gebracht wird. Schließlich werden sie in zwei der Häuser gebracht, die am anderen Ende der Reihe liegen, so weit wie möglich entfernt von Primo.
„Los, rein da!“, sagt Nummer Zweiundvierzig und stößt Golina in den metallenen Raum.
Krachend fällt hinter ihr die Tür ins Schloss.
2. Flucht
„Golina!“, ruft Primo. „Kannst du mich hören?“
Dass er sie mit Nano gesehen hat, löst gemischte Gefühle in ihm aus. Einerseits hat er sich darüber gefreut, doch andererseits sind die beiden nun ebenfalls eingesperrt. Wie soll das nur enden?
„Ich habe gesagt, du sollst ruhig sein!“, schimpft Primos großer Bruder, der Golem Nummer Dreiundzwanzig.
„Was willst du mit mir machen, du blöder Metallklumpen?“, erwidert Primo. „Mich in Sicherheitsverwahrung nehmen?“
„Wenn du nicht ruhig bist, werde ich es Nummer Null melden“, droht der Golem.
Das bringt Primo zum Schweigen. Zwar weiß er nicht, was der Anführer der Golems mit ihm anstellen würde, aber er kann sich vorstellen, dass es noch Schlimmeres gibt als diese Zelle, und er will auf keinen Fall von hier weggebracht werden, jetzt, wo Golina und Nano in der Nähe sind. Also gibt er klein bei.
Die Sonne geht unter. Wie jeden Abend bringt ein Golem etwas Brot und Fleisch, das er auf den Boden der Zelle wirft. Primo hat keinen großen Hunger, aber er isst trotzdem. Man kann ja nie wissen, wann man vielleicht seine Kräfte braucht.
Die Nacht ist still. Seit das Dorf von mehreren hundert Golems bewacht wird, trauen sich keine Monster mehr in die Nähe. Nur das Plätschern des nahen Flusses ist zu hören.
Plötzlich erklingt ein metallischer Ruf vom anderen Ende der Zellenreihe: „Alarm! Alarm! Die Sicherheitsverwahrte ist geflohen!“
Aufregung entsteht, als mehrere Golems dorthin laufen. Auch Nummer Dreiundzwanzig verlässt seinen Posten vor der Zelle und rennt davon. Primo drückt seine Nase am Fenster der Tür platt, doch er kann nichts sehen. Hat es Golina tatsächlich geschafft, zu entkommen? Aber wie?
Während er noch rätselt, öffnet sich die Tür seiner Zelle, doch niemand ist zu sehen. Dann hört er eine vertraute Stimme: „Verschwinde! Schnell!“
„Golina?“, fragt Primo. „Aber ... wie ...“
„Nun mach schon. Ich verstecke mich und befreie Nano.“
Primo versteht immer noch nicht, wieso er Golina hören, aber nicht sehen kann, doch er huscht aus der Zelle und rennt zum Fluss.
Schon erklingt hinter ihm ein lauter Ruf: „Alarm! Alarm! Der Sicherheitsverwahrte aus Zelle eins flieht!“
Die Golems, die vor Golinas Zelle standen, rennen jetzt auf Primo zu. Einer von ihnen versucht, ihm den Weg abzuschneiden, doch Primo schafft es, sich mit einem Hechtsprung ins Wasser zu stürzen, bevor die Golems ihn erreichen. Rasch durchquert er den Fluss und flieht in den dichten Wald auf der anderen Seite.
„Dreiundzwanzig, Siebzehn, bildet eine Brücke! Maximale Ausführungsgeschwindigkeit!“, hört er einen der Golems rufen.
„Negativ, Zweiundvierzig!“, erwidert ein anderer. „Deine Befehlsautorität konnte nicht bestätigt werden.“
„Einheiten, die sich meiner Anweisung widersetzen, werden Nummer Null gemeldet!“
„Bilde doch selber eine Brücke, du Totschleife!“
„Dies ist eine unzulässige Herabwürdigung meinerseits! Das wird Konsequenzen haben!“
Den Rest der Streiterei bekommt Primo nicht mehr mit. Er ist erst einmal in Sicherheit, denn die Golems können das Wasser nicht ohne Weiteres durchqueren, und solange sie sich darüber zanken, wer ...
Unngh!, erklingt das Stöhnen eines Nachtwandlers ganz in der Nähe.
Früher hätte dieses Geräusch Primo in Panik versetzt. Doch inzwischen ist er ein erfahrener Abenteurer und Dorfbeschützer, der bereits Dutzende der grünen Gestalten erledigt hat.
Doch als Primo sein Schwert ziehen will, wird ihm klar, dass es ihm die Golems abgenommen haben, genau wie seine Diamantrüstung. Er ist unbewaffnet und schutzlos, und leider verfügt er nicht über Kolles Kraft, mit der er einen Nachtwandler auch mit bloßen Fäusten besiegen könnte. So bleibt ihm nur die Flucht.
Hals über Kopf hastet er durch die Dunkelheit. Doch als spürten sie seine Wehrlosigkeit und wollten sich für all die Niederlagen vergangener Abenteuer rächen, kommen nun von allen Seiten Monster auf ihn zu. Nur knapp kann er einem Knallschleicher ausweichen, der plötzlich vor ihm aus einem Gebüsch auftaucht und sich zischend aufbläht. Der Pfeil eines Knochenmanns, der von links heranschießt, verfehlt ihn um Haaresbreite. Und zu allem Überfluss springt direkt vor ihm eine Riesenspinne von einem Baum!
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