Meine Schwester wird ernsthaft gescholten, aber erst, nachdem ihre Freundin nach Hause gegangen ist. Sie habe mich grundlos geärgert, behauptet meine Tante. „Jetzt kiek up das kaputte Fenster“, sagt sie. Wäre ich nicht wütend gewesen, hätte ich meine Schwester verteidigt. Immerhin verstehe ich sie. Sie wollte sich vor ihrer Freundin in Szene setzen. Mädchen müssen so sein, weil sie sich vor ihren Freundinnen fürchten.
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Ist es wahr, frage ich meinen Vater anlässlich eines seiner Besuche. Wir sind spazieren gegangen. Mein Vater versucht, meine Fragen zu beantworten, aber er verliert häufig den Faden. Wenn wir nichts sagen, stapfen wir schweigend daher. Wir kehren in die Gaststätte des Zentrums von Grotebühl ein. Neben der Kneipe steht eine Kolonialwarenhandlung. Die Wirtschaft bietet ausschließlich Bier und Schnaps an. Mein Vater bestellt mir das erste Bier meines Lebens. Ich versuche des widerlichen Gesöffs Herr zu werden, indem ich mir ausschließlich den Schaum hereinziehe. Wie immer ich mich abmühe, zu viel bleibt von der ekligen Brühe zurück.
Ich habe gelernt, dass man nicht wütend sein darf, und wenn doch, einen Grund für seine Wut haben sollte. Diesmal habe ich mir für einen Zorn einen entlegenen Anlass gewählt. Es gibt Leute, die versuchen, meinen Hund schlecht zu reden. Die Rassehundevereine züchten immer einseitigere Merkmale in die Hunde, bis sie zur Zirkusattraktion werden. Ist das wahr, frage ich. Sie züchten ausschließlich nach dem Aussehen und nicht nach dem Charakter? Die überkandidelten Hunde sind von Geburt an so traumatisiert, dass sie nach der Möglichkeit hündischer Erkenntnis und dem Sinn ihres Lebens fragen? „Trink dein Bier aus“, sagt mein Vater. „Oder bist du angetrunken?“
Auf dem Lande werden Hunde aus großen Würfen verschenkt. Anders als wir haben sie alle ein unersättliches Bedürfnis nach Liebe. Mein Hund ist in Teilen ein Wolfsblut. Ansonsten ist er ein Mischling. Er kann den Hof bewachen und Schafherden umrunden. Es gibt keinen besseren Gefährten als ihn. Mein Hund und ich haben sich, kaum dass wir uns sahen, füreinander entschieden. Seitdem bleckt er die Zähne und beginnt leise zu knurren, sobald einer lauter mit mir spricht. Seine Haare sträuben sich, wenn man weiter mit mir redet. Das ängstigt die Menschen, so dass sie aufhören, mich zurechtzuweisen. Wenn mein Onkel mir etwas zu sagen hat, sperrt er den Hund zuvor in den Kuhstall. Bald beginnt mein Hund an der Stalltür zu kratzen und zu jaulen, weil er einen sechsten Sinn dafür hat, wann er mir beistehen soll.
Gemeinsam mit meinem Hund erobere ich die Welt. Wenn mein Hund und ich an einem der Höfe vorbei kommen, rufe ich: „Meuen.“ Mein Hund sagt auch: „Meuen“. Aber ihn hören die Nachbarn nicht. Die Nachbarn sagen: „Kiek mal, de Lütge.“ Oder sie fragen einander: „Ist dat Mürkers Gerd?“ Oder sie rufen mir zu: „Bisse am Spazeien?“ Nur unser nächster Nachbar, Heinrich Dürkopp, tippt sich an die Stirn, wenn ich vorbeikomme. Dieser Mann ist ein Enkel des alten Dürkopp. Mittlerweile wird er selbst der alte Dürkopp genannt. Er ist so unbeliebt ist wie seinerzeit sein Großvater, auch weil er die Kirche verspottet. So sagt er: "Ich glaube nur, was ich sehen und anfassen kann.“.
Dürkopp hat einen Sohn, der allgemein Bubi genannt wird, weil ihn seine Mutter im Kleinkindalter so rief. Bubi Dürkopp ist ein Jahr älter als ich und zwei Köpfe größer. Jeder unserer Versuche, miteinander zu spielen, endet damit, dass er mich verprügelt. Wenn ich mit meinem Hund vorbeigehe, kommt Bubi Dürkopp nicht aus dem Haus. Sogar der Bauer hat sich bis zu seiner Scheune zurückgezogen. Er beobachtet uns finster. Aber komme ich ohne Hund, lehnt Bubi Dürkopp hinter dem Zaun und fragt: „Wutte speerln?“ Neuerdings finden Bubi und ich wenig Zeit zum Spielen, weil der alte Dürkopp mir jedesmal Arbeiten auf seinem Hof zu verrichten gibt, um mich von seinem Haus fernzuhalten. Der Alte mag keine Kinder, nicht einmal den eigenen Sohn.
Die Dürkopps haben wie wir einen Hund. Das hätte ein guter Hund werden können, meint mein Onkel. Dazu schüttelt er den Kopf. Das ist das Äußerste, was er gegen einen Nachbarn zu sagen bereit ist. Nach der Arbeit des Tages kümmert sich der alte Dürkopp um seinen Hund, indem er ihn auspeitscht. Oder er setzt sich mit seinem Hund vor dem Hauseingang und quält ihn an den Geschlechtsteilen. Wenn der Hund seinen Schmerz herausjault, hört man ihn auf allen benachbarten Höfen im Brauk .
Links vom Dürkopp´schen Hof liegt der Brökelsiep`sche Hof. Der alte Brökelsiep ist ein freundlicher Bauer. Wenn ich an seinem Hof vorbeikomme, ruft er: „Bisse am Spazeien?“ Jetzt steht er hinter dem Zaun und hört zu, wie der alte Dürkopp seinen Hund foltert. Er geht ins Haus und wird an diesem Abend nicht mehr herauskommen.
Mein Hund und ich gehen dennoch in den Busk . Als wir aus dem Waldstück heraustreten, haben wir keine Hexen gefunden. Man möchte nicht, schließe ich, dass ich das Waldstück betrete, weil man uns in diesem Fall nicht von weitem über die Norddeutsche Tiefebene beobachten kann.
Auf dem Hof gibt man mir freiere Hand als früher den eigenen Kindern. Gegebenenfalls denken die Leute an meinen Hund. Auch fürchten sie meine Wut. Meine Schwester wird hingegen zur Arbeit herangezogen. Allerdings ist sie sieben Jahre älter als ich. Für was wäre ein Mädchen nütze, wenn es nicht arbeitet?
Mit den Hexen ist es ähnlich wie um den Weihnachtsmann bestellt, behauptet Bubi Dürkopp. Es gäbe sie beide nicht. „Ich will das nicht hören“, sage ich. Damit spreche ich ein erstes Mal aus, dass die schönere Geschichte die wahre sein könnte.
Ich sitze auf dem Boden mit etwas Spielzeug um mich herum. Als mein Cousin auf unserem Hof auf Fronturlaub war, hat er mir einen Panzer aus Holz geschnitzt.
Die alte Brökelsiep ist gekommen, um Klatsch zu verbreiten. Meine Tante zählt ihr auf, wer den Kindern bei uns was zu Weihnachten geschenkt hat. In meinem ersten Jahr in der Fremde hat mich nicht nur mein Vater beschenkt. Auch ein Teil der entfernteren Verwandtschaft hat mir Süßigkeiten und Spielsachen mitgebracht, weil ihnen ein mutterloser Junge von drei Jahren so was von leid getan hat. Ein Jahr weiter, und meine Verwandtschaft wird zu ihrer üblichen Knauserigkeit zurückfinden. Ich breche in Tränen aus, weil am Ende nichts übrigbleibt, was mir der Weihnachtsmann mitgebracht haben könnte. „Bin ick overhaupt nicht brav wähn?“ frage ich. Meine Tante nimmt mich ausnahmsweise in die Arme. „Junge, Junge“, sagt sie und hört rasch mit dem Tätscheln auf, „musse jümmer tauhörn?“
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Ich gehe mit meinem Hund über Wiesen und Weiden. Wir kriechen unter Stacheldrähten hindurch. Der Draht grenzt die Wiesen nach Eigentumsverhältnissen ab. Manchmal jage ich mit meinem Hund grasende Kühe. Diese sind phlegmatisch und haben gelegentlich eine Aufmunterung verdient. Dann müssen wir selbst laufen, weil wir von einem Bauern mit erhobener Mistgabel gejagt werden. Wir kriechen unter weiteren Stacheldrähten hindurch. Vor uns liegt ein kleineres Waldstück. Als wir es betreten, fliegen Vögel auf. Wollen wir noch einmal in den Busk gehen, frage ich. Wuff, behauptet mein Hund. Hexen gibt es nicht.
Jenseits des Waldstücks kringelt sich ein Fluss. Wir gehen das Ufer entlang, bis wir an den Stau kommen. Dort ist das Wasser so tief, dass es über meine Brustwarzen reicht. Als ein neuer Sommer gekommen ist, weigert sich mein Hund, mit mir im Wasser zu spielen. Ich gebiete meinem Hund, sich ans Ufer zu stellen. Der Hund zögert. Eher er es sich versieht, habe ich ihn ins Wasser gestoßen. Mein Hund lässt das Wasser mächtig platschen, während er durch den Fluss schwimmt. Als er wieder Boden unter den Füßen hat, schüttelt er sich. Millionen Tröpfchen sprühen nach allen Seiten. Sie gleiten zusammen, steigen empor und bilden den Regenbogen. „Vertell düsse Geschichten nich“, sagt meine Tante. „De Lüe glöm, datte verrückt biss.“ „Und watt is mit dienen Geschichten vom Wiehnachtsmann?“ frage ich. "Und mit Gott?" „Frooch dienen Fodder“, sagt meine Tante.
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