1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Mein Hund weigert sich fortan, mit mir an den Rand des Flusses zu gehen. Alles macht er doch nicht, was ich ihm sage. Ich gehe mit meinem Hund über unseren Hof. Hier leben viele Tiere. Mein Hund und ich kommunizieren mit ihnen auf einer vegetativen Ebene.
Die Schweine sind an Gesprächen mit uns nicht interessiert. Hinter ihrer durch gezielte Verfettung bewirkte Lethargie lauert die Wildheit. Sie wissen, wir wollen sie fressen. Sie würden uns gleichfalls gern essen, kämen sie nur aus ihren Ställen heraus. Wenn die Schweine abgefüttert sind, beruhigen sie sich. Sie drehen sich im Schlaf auf die Seite und träumen von Animal Farm .
Die Kühe haben zu tun, ihre sieben Mägen mit Gräsern zu füllen. Das beschäftigt sie derart, dass sie in allen Zusammenhängen sanftmütig sind. Was immer wir sagen, sie wären einverstanden. Wenn sie einen Gedanken fassen und loslassen, mag ein halber Tag vergangen sein. Die Ochsen haben Temperament gezeigt, bis die Menschen sie kastriert haben. Jetzt denken sie traurig daran, was sie in ihrem Leben verpassen mögen.
Hühner, Enten und Gänse leben in eng gestrickten sozialen Gemeinschaften. Daher ist kommunikativ immer was bei ihnen los. Sie machen aus dem kleinsten Korn ein riesiges Heckmeck. Wenn sie sich kurzzeitig mit ihren Flügeln erheben, erkennen sie für einen Augenblick, dass es eine Welt außerhalb des Hühnerhofes gibt, um es gleich zu vergessen. Der Hahn stolziert auf dem Hof einher, bis die Hennen zu gackern beginnen und die Bauersfrau die Fenster schließt, während ihr eine Idee zur Gestaltung der nächsten Nacht kommt. Derweil sagt ein Bauer zum anderen: Was haben uns die Hühner heute zu sagen? Entweder ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.
Die Katze verfügt unter allen Tieren über das differenzierteste sprachliche Vermögen. Andererseits ist sie das asozialste aller Tiere und missachtet ihr eigenes sprachliches Talent. Der Katze ist an Plaudereien mit uns allenfalls zu ihren Bedingungen gelegen. Ihre Symbiose mit den Menschen stellt sich ihr als Herablassung dar. Unsere Katze verachtet die Hunde noch mehr als die Menschen, weil diese von der Liebe der Menschen abhängig sind. Die Katze liebt nicht einmal andere Katzen. Allenfalls liebt sie, das sagt sie, während sich ihre Schnurrbarthaare sträuben, unterschiedslosen Sex.
Mein Hund schaut genierlich zur Seite. Er glaubt zu wissen, dass etwas verlorenginge, wenn Liebe auf Sex reduziert wird und es das romantische Schmachten unter Hunden nicht gäbe. Ich kann das für meinen Hund bestätigen. Wenn mein Hund in den Nächten der Brunftzeit zu den Nachbarhöfen läuft, geht jedem Koitus ein Tohuwabohu aus unendlich komplizierten Annäherungen zu Hündinnen, Abdrängungen von ihnen und Interaktionen voraus. „Du fängst vielleicht Mäuse“, sage ich der Katze. „Aber sonst kannst du nichts.“ „Ich würde mich vom alten Dürkopp nicht auspeitschen lassen“, sagt die Katze und schleicht mit erhobenem Schwanz davon. „Er würde mich nicht einmal finden.“
Die Mutter der gerade geborenen Lämmer stirbt, weil sich unser Hof einen Tierarzt bei Schafen nicht leisten kann. Die Lämmer vermissen ihre Mutter. Sie stehen mit wackeligen Beinen auf einer Wiese. Sogar die Erwachsenen zeigen beim Anblick der Lämmer Gefühle. Sie rufen: „Kiek mol, dee lütgen Biesta.“ Mein Onkel baut um die Lämmer einen Holzzaun. Wir ziehen sie mit der Flasche groß. Ich darf den Lämmern die Fläschchen halten. Mein Hund umrundet sie, um zu zeigen, dass er für sie da ist. Die Gedanken der Lämmer sind wuschelig-wolkig. Sie lassen sich nicht verbalisieren. Die Lämmer verstehen nicht, was wir sagen. Aber sie freuen sich über unseren freundlichen Ton. Ich sage zu ihnen: „Och, och.“
Der Pferdehändler kommt mit dem Fahrrad vorbei. So wird er genannt, obgleich er mittlerweile mehr Schweine als Pferde verkauft. Wir trauen ihm nicht, aber es führt kein Weg an ihm vorbei. Die Lämmer haben Pfunde angesetzt und für den Händler an Wert gewonnen, zumal in den Städten gern Lammfleisch gegessen wird. „Ich mache euch einen anständigen Preis“, sagt der Händler. Gestern sind wir alle am Rande des Moores gewesen und haben die Entwässerungsarbeiten für dieses Jahr abgeschlossen. Das wird einige Jahre dauern, bis aus diesem Sumpf eine Wiese geworden ist. Ich gehe zu meinem Hund. „Geh zu unserem Stück Land am Moor“, sage ich. „Nimm die Lämmer mit und komm nicht zurück, bis ich dir das sage.“ Am nächsten Tag kommt der Pferdehändler, um die Lämmer abzuholen. Wir suchen überall nach den Lämmern, aber finden sie nicht.
Einige Tage vergehen. Die Mitglieder meiner neuen Familie beginnen, mich von der Seite zu mustern. Eines Nachmittages fallen mein Onkel und meine Tante über mich her. Sie bezirzen mich mit freundlichen Worten. Ich sage ihnen, wo mein Hund mit den Lämmern zu finden ist. „Dann kummes man“, sagt meine Tante. Mein Onkel hebt mich auf die Querstange des Fahrrades. Wir fahren zu der Brache am Moor. Die Lämmer sind ein Stück größer geworden. Mein Hund ist bis auf die Rippen abgemagert, weil er seine Aufsichtspflichten nicht vernachlässigen wollte und auf die Suche nach eigener Nahrung verzichtet hat. Kaum findet er die Kraft, mit dem Schwanz zu wedeln, als er mich sieht. „Das wird wieder“, sagt meine Tante auf Hochdeutsch und meint damit den Hund.
Als wir auf unseren Hof zurückgekehrt sind, ruft meine Tante mich zu sich. „Wir lassen die Lämmer etwas länger hier“, sagt sie. „So kannst du einen ganzen Tag mit ihnen spielen.“ Das soll ein Entgegenkommen sein. Noch einen Tag und der Pferdehändler kommt, um sich die Lämmer zu holen. Ich stehe am Zaun und sehe zu, wie sein geschlossener Wagen mit den Lämmern davon ruckelt. Nicht, dass ich mich wunderte. Ich weiß, seit ich drei war, dass alles kaputt geht.
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Mein Onkel wuchs auf einem mittelgroßen Hof in der Nähe von Grotebühl auf. Sein Bruder ist der ältere und somit der Hoferbe. Daher wird sich mein Onkel für seine berufliche Zukunft auf die Suche begeben. Auf dem benachbarten Hof hat eine Magd ihre Arbeit aufgenommen. Als mein späterer Onkel eines Morgens am Hof vorbeikommt, sieht er die Magd von der Deele zum Haus gehen. Er fragt sie: „Gaahsse Sünndach mit mie meie inne Karken?“
Das ist ein Annäherungsversuch, der in unseren Dörfern wenig üblich ist. In die Kirche geht man als Familie, weil man dort eine Bank hat. Darüber hinaus leben in unseren Dörfern einige Gläubige. So etwas lässt sich nie völlig ausschließen. Allerdings hat man auf dem Lande ein gutes Gedächtnis. Es wäre undenkbar, dass eine Frau ihren Konfirmations- oder Vermählungsspruch nicht wüsste und aufsagte, sobald man sie fragt. Andererseits weiß keiner, was die Sprüche bedeuten.
In unserem Dorf gibt es drei Feste im Jahr, um die Geschlechter einander näherzubringen. Das sind das Feuerwehrfest, das Schützenfest und das Reiterfest. Unter diesen Festen ist das Schützenfest das gefährlichste, weil Schützenkönig derjenige wird, der im entscheidenden Wettbewerb am besten geschossen hat. Der Schützenkönig geht mit der Übernahme seines Amtes die Verpflichtung ein, allen Dorfbewohnern einen auszugeben, sobald er sie trifft. Das dauert und kostet, bis auf dem nächsten Schützenfest ein neuer Schützenkönig ausgerufen wird. Folglich können sich nur die Besitzer der größten Höfe einmal im Leben leisten, der Schützenkönig zu sein. Deshalb muss der, der Schützenkönig werden soll, vorher ausgeguckt werden. Während alle anderen Mitglieder des Schützenvereins im Wettbewerb neben die Scheibe zielen, ist der künftige König der einzige, der auf die Zielscheibe hält. Einmal geschah es, dass ein kleiner Bauer mehrere Male die Scheibe traf. Was blieb dem Vereinsvorstand übrig, als den Mann zum König auszurufen, obgleich alle wussten, dass sie ihn und seine Familie in den Ruin trieben. Der neue Schützenkönig schaffte es ein Jahr lang, mit jedem zu trinken. Dabei wurde er immer trauriger. Anschließend verlor er seinen Hof. Er ging ins Große Moor und kehrte nicht wieder.
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