Der angesprochene Nachrichtenredakteur nickte verständnisvoll. Michael war erst seit einigen Wochen bei Radio Null und mit den Charakteren der Mitarbeiter, erst recht mit der weiblichen Kollegenschaft, noch nicht so vertraut. Daher hielt er sich in den Konferenzen ähnlich zurück wie Jörn.
„Ich finde auch, dass es nicht geht, dass Jörn sich immer so über die Musik lustig macht oder die Sänger sogar schlecht macht und seinen eigenen Geschmack so nach außen trägt. Immerhin hat die Musikredaktion sich da genau überlegt, warum welcher Song gespielt wird und so.“ Franziska war noch lange nicht am Ende mit ihrem täglichen Jörn-Dissing. „Wenn du etwas FINDEST, meine Liebe, dann heb’ es auf und steck’ es in die Tasche, dann gehört es ganz dir.“ Wow! Rüdiger hatte scheinbar auch eine schlechte Nacht gehabt, wenn er jetzt einen auf Germanist machte. Da konnte einem Franziska, die jetzt leicht errötete, ja fast schon leidtun. Aber eben auch nur fast. Der Konter seines CvD tat ihm gut und er bemühte sich, nach wie vor nicht zu seiner Ex zu sehen. „Immerhin macht Jörn seine Moderationen in sauberem und einwandfreiem Deutsch, was man leider nicht von jedem sagen kann.“ Er sah in die Runde und einige der Redakteure und Praktikanten, die sich angesprochen fühlten, lächelten unsicher oder sahen Desinteresse heuchelnd auf eine der ausgelegten Tageszeitungen. „Gut, können wir dann zu den Themen des Tages übergehen oder war noch was in Sachen Früh?“ Rüdiger sah sich fragend in der Runde um, aber weder die Sendungs-Assistenten noch die Volontäre hatten noch etwas zu melden. Steffi zog eine beleidigte Fresse, sagte aber auch nichts mehr. „Gut, dann also, was haben wir für morgen schon an festen Themen für Jörn hörn ?“
doch nun zu müde, um noch zu hoffen
sagt sie sich gute nacht
mit einem lachen in moll
Erdmöbel / Lachen in Moll
„Oma, diesen Dreck kannst du doch nicht ernsthaft lesen? Ich meine, du weißt schon, dass nicht mal die Hälfte von dem Zeug stimmt, das die hier aufschreiben?“ Jörn saß bei Oma Annie auf dem Sofa, das im Sommer in kurzen Hosen immer entsetzlich ungemütlich war, da es mit einem lindgrünem Stoff bezogen war, der dann an nackten Beinen zwickte und kribbelte wie ein Sack Stroh. Aber noch war Frühjahr und die Beine waren durch Hosenstoff geschützt. Das Sofa gehörte zu einem Ensemble, das bei Jörn unter dem Titel „Spießer-Dreier“ lief, Dreisitzer-Zweisitzer-Sessel. Seine Oma saß allerdings nie auf einem dieser Sitzgelegenheiten, sondern immer auf ihrem leberwurstfarbenen Schlafsessel mit den Holzlehnen, den sie mit einer selbstgehäkelten Decke vor Abnutzung schützen wollte. Dieses Monstrum von Sitz konnte man in verschiedene Positionen kippen: sitzend, leicht zurückgelehnt oder auch komplett in die Waagerechte. Als Kind hatte er sich darauf gefühlt wie Captain Kirk auf der Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise. Oma Annie nahm mittags gern mal einen kleinen Eierlikör oder Baileys und wurde dann sehr schnell sehr müde, doch der Sessel hatte den Vorteil, dass man auf Knopfdruck in bequeme Schnarchstellung abgleiten konnte. Jörn hatte das selber schon einmal ausprobiert als er bei seiner Oma übernachten musste, weil diese eine schlimme Grippe hatte und nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen, also Essen machen, Tee kochen und dergleichen. Damals hatte der liebende Enkelsohn sich bei ihr einquartiert, damit jedenfalls ab Mittag jemand den Krankendienst verrichten konnte. Damals war er die ein oder andere Nacht, erschöpft nach einem Tag des Kümmerns und einigen Gläsern entspannenden Weins, selig beim Fernsehen auf diesem Sitzmöbel eingeschlummert. Natürlich hätte Oma Annie auch genug Geld gehabt, um sich rund um die Uhr eine Pflegerin leisten zu können, aber da war die Alte eisern: Fremde Menschen kamen ihr nicht über Nacht ins Haus und erst Recht nicht in ihre Küche.
„Wir halten sie immer auf dem neuesten Stand über Neuigkeiten aus der Welt der Prominenten und des Adels,“ las Jörn vor und hielt seiner Oma das Titelbild des bunten Blattes vor die Nase. „Ich meine, das siehst doch sogar du ohne Brille, dass das hier vorne eine Fotomontage ist. Der Kopf von diesem Prinzen ist doch zweimal so groß wie der von dem Mädchen, das angeblich ins Königshaus einheiraten will. Womöglich haben die beiden noch nie im Leben nebeneinander gestanden. Aber die Leute hier wissen natürlich schon, welche Blumen die Hochzeitstafel schmücken sollen.“ Er griff nach einem Keks, den seine Oma auf einer Etagere zusammen mit Schokoküssen, zerbrochener Bitterschokolade und Gummibärchen angerichtet hatte, und blätterte die Zeitschrift durch. „Und dann so was hier: Auch aus dem tiefsten Tal der Verzweiflung gibt es einen Ausweg – Schicksale. Wer schreibt denn so etwas? „Sie wollte sich töten, doch das Leben ließ sie nicht los.“ Oma das geht doch nicht, liest du das wirklich alles, was die hier so absondern? Da wird man doch irre in der Birne.“
„Das ist ein ganz neues Heft, damit bin ich noch nicht durch.“ Oma Anni lächelte und steckte sich ein Stückchen Schokolade in den Mund, auf dem sie genießerisch herumlutschte.
Jörn blätterte weiter und schüttelte den Kopf über Geschichten von Prominenten von denen er noch nie zuvor gehört hatte und solchen, über die täglich neue Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, weil sie in irgendeiner Fernsehshow einen Sängerwettstreit gewonnen oder Würmer und Maden gegessen hatten. Annie trank einen Schluck, setzte ihre Kaffeetasse ab und lachte ihn an. „Auf Wahrheit oder nicht kommt es doch gar nicht an. Ich lese doch diese Artikel nicht, weil sie stimmen, sondern weil das einfach schöne Geschichten sind. Tolle Fotos haben die auch immer, und ich kann etwas rätseln, und ab und an habe ich da auch schon ein schönes neues Rezept gefunden. Mediterrane Frikadellen zum Beispiel, habe ich mir heute Mittag gemacht, steht auch da drin, wie das geht. War lecker, das mach ich mal wieder. Im Kühlschrank sind noch zwei, soll ich dir die eben aufwärmen?“ Sie machte Anstalten, sich aus ihrem Sessel zu erheben, aber Jörn winkte ab. „Wenn ich die Wahrheit wissen will, dann rufe ich meinen einzigen Enkel an, der ist ja beim Radio und kennt sich aus in der Welt.“ Sie tätschelte seine Hand, die auf dem Tisch lag. „Wie geht es dir denn bei deiner Arbeit? Macht es dir noch Spaß? Hast du wieder eine kleine Freundin?“
Das hatte sie immer schon gemacht, von „kleinen“ Freundinnen gesprochen, dabei war schon Jörns erste große Liebe, in der vierten Klasse damals, einen ganzen Kopf größer gewesen als er. Tatjana Fährmann aus der Parallelklasse. Sie hatte lange braune Haare, trug im Gegensatz zu allen anderen Mädchen tatsächlich nur Kleider und eine hässliche Zahnspange. Aber sie hatte dennoch das schönste Lachen der ganzen Schule gehabt. Er erinnerte sich noch gut daran, dass sie den dicken Tim weggeschubst hatte, als der ihm die Tüte Erdnüsse klauen wollte, die er sich am Schulkiosk gekauft hatte. Nach diesem mutigen Einsatz für ihn und seine Nüsse war es um ihn geschehen gewesen. Augenblicklich hatte er sich in seine Retterin verliebt und fast drei Monate lang hatte er damals nur Augen für Tatjana gehabt. Sie hatten in der Pause zusammen ihre Brote gegessen und sich morgens vor dem Schultor getroffen, um zusammen in den Klassenraum zu gehen. In Kindertagen also eine ewig dauernde Beziehung. Danach war seine Liebe aus Berlin weggezogen, wohin eigentlich noch mal?
„Sag mal Omi, weißt du eigentlich wo Tatjana Fährmann abgeblieben ist?“ Er kaute an seinem Keks.
„Tatjana? Wer ist denn das denn noch gleich gewesen? Bei deinen ganzen Mädchen komme ich nicht mehr so richtig mit, mein Junge. Versteh’ mich da nicht falsch, ich finde es ja gut und richtig, wenn man sich erst einmal austobt als junger Mensch, aber nun bist du ja auch bald vierzig und ich fände es ja schon ganz schön, auf meine alten Tage noch Uroma zu werden.“
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