Luc schaute besorgt um sich, während er in seine Jacke schlüpfte. „Hier sind sie nicht, ich habe schon mehrmals nach ihnen gerufen. Ich habe gespürt, dass Jo die Kette losgelassen hat, kurz bevor wir gelandet sind. Vielleicht sind Motz und sie an einer anderen Stelle angekommen.“
Manù nickte. Das würde sie angesichts ihrer Unerfahrenheit, mit Amuletten und Reisesprüchen zu reisen, nicht wundern. Es war vielmehr erstaunlich, dass der Zauber überhaupt gewirkt hatte. Allerdings mussten sie noch herausfinden, ob er sie wirklich nach Thuroth geführt hatte.
Sie befanden sich in einem Wald aus Bäumen mit dicken silbrigen Stämmen, die weit über ihnen in ausladenden Baumkronen endeten, die trotz des Winters mit grauem Laub gefüllt waren und aus denen das Zischen und Schnattern von Tieren zu ihnen hinunterdrang. Silbrige Fäden hingen wie Lametta von den verschlungenen Ästen hinab, die zerfurchte Rinde war mit Moosen und Flechten überzogen. Manù strich mit den Fingern darüber. Kleine Partikel der Rinde blieben an ihren Handflächen haften und ließen sie schimmern.
Luc beugte sich zu ihr. „Was sind das für Bäume?“
„Cridíen“, erwiderte sie leise und schüttelte verwundert den Kopf. Es gab sie wirklich! Wie oft hatte sie von ihnen gelesen und sich gefragt, ob sie sie jemals zu Gesicht bekäme. Es dämmerte und das Licht unter den Baumkronen begann zu schwinden.
„Wir müssen den Wald verlassen, Luc“, drängte sie, ergriff ihren Rucksack und stapfte los.
Nach etwa einhundert Schritten traten sie auf einen breiten Strand, der ein Gewässer säumte, dessen gegenüberliegendes Ufer nicht zu sehen war. Das Wasser plätscherte sanft an Land und Manù schloss daraus, dass es sich um einen See handelte. Durch die tanzenden Schneeflocken konnte sie zwei Frauen in langen Kleidern erkennen, die sich auf einem weit in den See ragenden Steg befanden, und zog Luc hinter einen Baumstamm. Einige Ruderboote waren am Steg vertäut, die leicht hin und her schaukelten. Weiter vom Ufer entfernt schienen große Zwei- und Dreimaster mit ihren mächtigen Segeln über den See zu schweben. Die Frauen verließen den Steg, überquerten den Strand und verschwanden zwischen den Bäumen.
„Ob sie uns bemerkt haben?“, fragte Luc flüsternd.
Manù zuckte mit den Achseln, schritt vorsichtig erneut auf den Strand hinaus und drehte sich um. In einiger Entfernung hinter dem Wald erhob sich ein mächtiges Gebirge, dessen Gipfel sich in den dunklen Wolken verloren. Ein majestätischer Berg stieß Rauch in die eisige Luft. See, Wald und Berge waren in die unterschiedlichsten Grautöne getaucht. Ein Schrei aus der Luft ließ ihren Kopf nach oben schnellen. Ein Wesen mit breiten Schwingen schwebte in großer Höhe auf das Gebirge zu.
„Sieht aus wie eine Riesenfledermaus.“ Luc schüttelte den Kopf. „Komm, lass uns den Frauen folgen“, schlug er vor und marschierte los. Manù schulterte ihren Rucksack und folgte ihm. Sie konnte kaum Schritt halten.
„Luc, warte!“, keuchte sie und schloss zu ihm auf, als er sich umdrehte.
„Was ist denn?“ Seine Stimme klang ungeduldig.
„Wir müssen vorsichtig sein. Lass uns im Schutz der Bäume bleiben, bis wir uns einen Überblick verschafft haben und wissen, mit wem wir es zu tun haben.“
Auch wenn ihr der Gedanke, im Wald zu bleiben, unangenehm war, hielt sie dies für besser, als den Frauen offen zu folgen. Sie zogen sich wieder zwischen die Bäume zurück und behielten den Pfad im Auge, der vom Steg aus quer durch den Wald führte und auf dem in der Ferne die Silhouetten der beiden Frauen zu erkennen waren.
Manùs Füße versanken knöcheltief im Schnee und bald drang Nässe in ihre Wanderschuhe. Wie trostlos es hier ist, dachte sie und warf den Bäumen einen unruhigen Blick zu. Sie wusste, wozu sie fähig waren. Eine plötzliche Welle der Mutlosigkeit ergriff sie und es kamen ihr Zweifel an der Durchführbarkeit ihres Vorhabens. Sie konnten Jo nicht retten, wie hatten sie glauben können, dazu in der Lage zu sein? Es war unmöglich, unmöglich.
„Unmöglich“, sagte sie laut und ließ sich in den Schnee sinken.
Luc blieb stehen. „Was ist los?“
Dann berührte er sie plötzlich am Arm und zeigte auf das Gras, das vor ihnen aus dem Schnee lugte. Es war ein einzelner hellgrüner Grashalm, der sich zwischen seinen grauen Kollegen im Wind hin und her bewegte. Manù berührte ihn sanft.
„Vielleicht war die gesamte Insel einmal farbig“, murmelte sie nachdenklich. Sie sah sich suchend um, fand aber nichts als dämmriges Grau.
„Die haben wohl ein mächtiges Problem hier“, meinte Luc und rieb sich die Augen. „Ich bin auf einmal so müde.“
Manù erstarrte. „Es sind die Bäume, Luc. Sie haben ... besondere Kräfte. Wir müssen den Wald sofort verlassen.“
Sie richteten sich auf und stapften durch den Schnee in die Richtung, in der Manù den Pfad wähnte. Langsam und schwerfällig setzten sie einen Fuß vor den anderen und stützten sich an den Stämmen ab. Bleierne Müdigkeit machte Manù jede Bewegung zur Qual und sie spürte, dass ihre Kräfte sie verließen. Wo war der Pfad? Dunkelheit breitete sich unter den Baumkronen aus, sie sah nicht weiter als bis zum nächsten Stamm. Es machte keinen Sinn weiterzugehen, sie konnte den Pfad nicht finden. Sie wandte sich um.
„Luc, wir ...“ Doch Luc war nicht hinter ihr. Sie stutzte. „Luc, wo bist du?“
Keine Antwort.
Du wusstest, wozu diese Bäume fähig sind , mahnte eine Stimme in ihrem Inneren.
Manù seufzte. Sie musste ein Licht riskieren, sonst würde sie Luc niemals finden. Sie zog die Taschenlampe aus dem Rucksack und leuchtete um sich. Die silbrige Rinde der Stämme strahlte golden im Lichtstrahl und warf das Licht vielfach zurück. Jetzt würden sie nicht mehr unentdeckt bleiben, doch das war nicht wichtig. Sie musste Luc finden. Seinen Namen rufend, stolperte sie vorwärts. Wieso war ihr nicht aufgefallen, dass er nicht mehr bei ihr war? Warum hatte sie nicht besser auf ihn geachtet? Verzweifelt lehnte sie sich an einen Baumstamm und atmete tief durch. Erinnere dich, Manù. Wie lauten die Worte, die die Bäume besänftigen können? Sie fielen ihr nicht ein, es war schon so lange her, dass sie sie gelesen hatte, und niemals hatte sie erwartet, sie eines Tages benutzen zu müssen. Sie war so müde. Langsam rutschte sie an dem Stamm hinunter auf den Boden. Die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand, blieb im Schnee stecken und strahlte in die Baumkronen. Was machte sie hier? Warum war sie hierhergekommen? Sie konnte sich nicht erinnern.
„Manù!“
Sie riss die Augen auf. Ein Mann kam auf sie zugekrochen. Er kam ihr bekannt vor. Die Augen fielen ihr wieder zu. „Ich bin über eine Wurzel gestolpert“, hörte sie ihn sagen. Warum ließ er sie nicht in Ruhe? „Manù, du kannst jetzt nicht schlafen. Komm schon, wir müssen hier raus.“ Er griff ihren Arm und schüttelte sie.
Sie zog ihren Arm weg. „Lass mich!“
„Nein, verdammt noch mal. Wir werden erfrieren, wenn wir hierbleiben. Komm schon. Ich dachte, du hast besondere Kräfte, die uns helfen können.“ Sie hörte seine Worte wie durch Watte. Dann spürte sie, wie ihr der Mann mehrfach ins Gesicht schlug und sie anbrüllte. Zornig öffnete sie die Augen. Endlich erkannte sie Luc und erfasste die Situation, in der sie sich befanden. Angestrengt versuchte sie, sich auf die Worte zur Besänftigung der Bäume zu konzentrieren, als ein plötzliches Knurren sie erstarren ließ. Sie hob den Kopf und sah am Rande des Lichtstrahls zwei riesige schwarze Hunde zwischen den Baumstämmen stehen, die Luc und sie regungslos musterten. Ein Mann trat in das Licht. Er war in einen langen Ledermantel mit Kapuze gehüllt, sein Gesicht lag im Schatten.
„Ihr kommt mit uns.“ Seine Stimme klang voll und tief. Er drehte sich um und obwohl er ein Bein nachzog, bewegte er sich schnell und behände. Die Hunde folgten ihm.
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